Accelerando
herunterzuladen. Wir
sitzen alle tief in der Tinte, es sei denn, jemand von euch hat in
einem Versteck heimlich Vermögen gehortet, das den Zusammenbruch
des Marktes nach unserem Aufbruch überlebt hat.«
Ein acht Meter langer Esstisch aus Mahagoni ziert die
weitläufige Museumsgalerie mit dem gefliesten Fußboden.
Darüber hängen das Skelett eines riesigen Argentinosaurus und eine mehr als hundert Jahre alte
Mercury-Kapsel. Auf dem Tisch strahlen Kerzen, silbernes Besteck und
feine Porzellanteller um die Wette. Der Tisch ist für zwei
Personen gedeckt, die einander gegenüber sitzen. Sirhan hat auf
einem Stuhl mit hoher Rückenlehne Platz genommen, unter einem
Brustgerippe, das einst einem Dinosaurier der Triceratops-Familie
gehörte. Ihm gegenüber sitzt Pamela. Sie hat sich für
das Abendessen umgezogen und trägt jetzt Kleidung, die in ihrer
Jugend modern war. Sie prostet ihm mit ihrem Weinglas zu.
»Erzähl mir doch mal von deiner Kindheit, ja?« Hoch
über ihnen schimmern die Saturnringe durch die Oberlichter, was
so wirkt, als hätte sich Leuchtfarbe über den
nächtlichen Himmel ergossen.
Sirhan hat große Vorbehalte, sich seiner Großmutter zu
öffnen, tröstet sich jedoch mit dem Gedanken, dass sie sich
eindeutig nicht in der Position befindet, irgendetwas, das sie von
ihm erfährt, gegen ihn zu verwenden. »Über welche
Kindheiten würdest du denn gern etwas hören?«, fragt
er.
»Was meinst du mit Kindheit -en?« Ihr runzliges
Gesicht verzieht sich zu einem Ausdruck völliger Verwirrung.
»Ich hatte mehrere. Mutter hat immer wieder auf den
Reset-Schalter gedrückt, weil sie hoffte, beim nächsten Mal
einen besseren Treffer mit mir zu landen.« Jetzt verzieht er
seinerseits das Gesicht.
»Das hat sie tatsächlich getan?!«, flüstert
Pamela. Das wird sie sich merken, wie ihr anzusehen ist, um es
später gegebenenfalls als Munition gegen ihre fehlgeleitete
Tochter verwenden zu können. »Warum, glaubst du, hat sie
das getan?«
»Sie sah keine andere Möglichkeit, ein Kind richtig
aufzuziehen«, wehrt Sirhan ab. »Geschwister hat sie ja
nicht gehabt. Kann auch sein, dass es ihre Reaktion auf eigene
Charakterschwächen war.« Wenn ich mal Kinder habe, dann
bestimmt mehr als nur eins, sagt er sich selbstgefällig. Wenn bedeutet dabei: vorausgesetzt, ich verfüge
über angemessene Mittel, um mir eine Braut suchen zu
können, und die angemessene emotionale Reife, um meine
Zeugungsorgane zu aktivieren. Als überaus vorsichtiges
Menschenkind hat Sirhan nicht vor, die Fehler der Vorfahren
mütterlicherseits zu wiederholen.
Pamela zuckt zusammen. »Das ist nicht meine Schuld«,
sagt sie leise. »Ihrem Vater ist da vieles anzulasten. Aber
was… welche Kindheiten – Plural – hast du denn
gehabt?«
»Oh, recht viele. Die familiäre Grundkonstellation
bestand darin, dass Mutter und Vater sich ständig stritten.
Mutter weigerte sich, den Tschador zu tragen, und Vater war zu
halsstarrig, um zuzugeben, dass er im Grunde von ihr nur ausgehalten
wurde. Sie gingen so miteinander um wie zwei Neutronensterne, die in
einer instabilen tödlichen Gravitationsspirale gefangen sind.
Neben diesem Leben hatte ich auch andere, ich musste mich ja nur
aufspalten und später wieder zusammenfügen, das lief alles
parallel. Ich weiß noch, dass ich während der Regentschaft
der mittleren Herrscherdynastie als junger Ziegenhirt in Ägypten
gelebt habe. Eine andere Version von mir wuchs als durch und durch
amerikanischer Junge im Iowa der 1950er Jahre auf. Eine weitere
Inkarnation von mir durfte die Wiederkehr des verborgenen Imam
miterleben – zumindest hielten ihn dessen Eltern dafür
– und…« Sirhan zuckt die Achseln. »Möglich,
dass ich dabei Gefallen an der Geschichtsforschung gefunden
habe.«
»Haben deine Eltern je erwogen, dich als kleines Mädchen
aufwachsen zu lassen?«
»Mutter hat es ein paarmal vorgeschlagen, aber Vater
hat’s verboten.« Genauer gesagt ist er zu dem Schluss
gekommen, dass es gegen das Gebot Gottes verstößt. »Ich habe eine Erziehung genossen, die in mancher Hinsicht
sehr konservativ war.«
»Das würde ich nicht sagen. Als ich ein kleines
Mädchen war, gab es ja gar keine Alternativen. Welche
Identität man wählen sollte – derartige Fragen
stellten sich damals gar nicht. Es gab keine Fluchtmöglichkeit,
nur Eskapismus. Hattest du nie Probleme damit zu erkennen, wer du
eigentlich bist?«
Die Vorspeisen kommen, in Würfel geschnittene Melone,
serviert auf einem Silbertablett.
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