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Accelerando

Accelerando

Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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Mit seiner Antwort wartet Sirhan
geduldig, bis seine Großmutter dem Tisch befohlen hat, ihr das
Gericht vorzulegen. »Je mehr Personen man darstellt, desto
besser weiß man, wer man selbst ist«, erwidert er.
»Man erfahrt, wie es ist, in anderer Leute Haut zu stecken.
Vater dachte, es sei vielleicht nicht gut für einen Mann, allzu
viel darüber zu wissen, wie man sich als Frau fühlt.« Während Großvater ganz anderer Meinung war, aber das
ist dir ja bekannt, fügt er, nur für seinen eigenen
Bewusstseinsstrom bestimmt, hinzu.
    »Da spricht er mir aus der Seele.« Pamela lächelt
ihm zu. Es könnte das wohlwollende Lächeln einer alten
Tante sein, wäre da nicht diese alarmierende Verschlagenheit in
ihrer Miene – oder ist es womöglich nur Verspieltheit?
Sirhan verbirgt seine Verwirrung dahinter, dass er sich
Melonenstückchen in den Mund schaufelt. Gleichzeitig schickt er
kurzlebige Agenten aus, damit sie angestaubte Handbücher
für gutes Benehmen durchforsten und ihn vorwarnen, falls er
drauf und dran ist, einen Fauxpas zu begehen. »Also, wie haben
dir deine Kindheiten gefallen?«
    »Gefallen ist nicht das Wort, das ich dafür gebrauchen
würde«, erwidert er so gleichmütig wie möglich
und legt den Löffel nieder, damit er nichts verspritzt. Als
wäre Kindheit etwas, das jemals zu Ende geht, denkt er
bitter. Sirhan ist bedeutend jünger als eine Gigasekunde und
setzt zuversichtlich darauf, dass er mindestens eine Terasekunde lang
existieren wird – wenn nicht in genau dieser molekularen
Konfiguration, dann wenigstens in irgendeiner einigermaßen
stabilen physischen Inkarnation. Und in jedem Fall hat er die
Absicht, während dieser ganzen riesigen Zeitspanne jung zu
bleiben, selbst während der endlosen Petasekunden, die noch
folgen mögen. Allerdings nimmt er an, dass es ihm dann,
Megajahre in der Zukunft, recht gleichgültig sein wird, wie
jugendlich sein Erscheinungsbild wirkt. »Außerdem ist das
ja noch nicht Vergangenheit. Wie steht’s mit dir? Genießt
du dein Alter, Großmama?«
    Pamela fährt fast zusammen, behält aber eiserne
Kontrolle über ihren Gesichtsausdruck. Nur das Blut, das
plötzlich in die Kapillargefäße ihrer Wangen
schießt, verrät sie. Sirhan kann es durch die winzigen
Infrarot-Augen sehen, die er in der Luft über dem Tisch schweben
lässt. »In meiner Jugend habe ich einige Fehler gemacht,
aber jetzt genieße ich mein Leben«, erwidert sie
leichthin.
    »Das hier ist dein Rachefeldzug, stimmt’s?« Sirhan
nickt lächelnd, während der Tisch die Vorspeisen
abräumt.
    »Du meine Güte, du kleiner…« Anstatt den Satz
zu vollenden, starrt sie ihn an. Und ihr Blick wirkt dabei
überaus düster. »Was weißt du schon von
Rache?«
    »Schließlich bin ich derjenige, der die Geschichte
unserer Familie erforscht.« Sirhan lächelt freudlos.
»Noch ehe ich achtzehn wurde, habe ich die Zeitspanne zwischen
dem zweiten und dem siebzehnten Lebensjahr einige Hundert Mal
durchlebt. Daran war der Reset-Schalter schuld, weißt du. Ich
glaube, Mutter war nicht klar, dass mein Bewusstseinsstrom vor allem
damit befasst war, alles festzuhalten und aufzuzeichnen.«
    »Das ist wirklich ungeheuerlich.« Pamela greift nach
ihrem Weinglas und nimmt einen Schluck, um ihre Verwirrung zu
überspielen. Sirhan kann sich nicht in Alkohol flüchten.
Ein Becher ungegorener Traubensaft ist alles, was seine Zunge
benetzt. »So etwas hätte ich meinem Kind niemals angetan.«
    »Warum erzählst du mir nicht von deiner Kindheit?«,
fragt das Enkelkind. »Damit ich es für die
Familiengeschichte festhalten kann, natürlich.«
    »Ich…« Sie setzt das Glas ab. »Du hast also
wirklich vor, eine Familiengeschichte zu verfassen.«
    »Ich denke darüber nach.« Sirhan setzt sich auf.
»Ein altmodisches Buch, das sich über drei Generationen
erstreckt, die interessante Zeiten durchleben. Ein Werk postmoderner
Geschichte, im Übrigen eines der inkohärenten Art –
wie willst du das Leben von Menschen dokumentieren, die ihre
Identitäten nach Lust und Laube aufspalten können? Die
jahrelang tot sein können, um dann wieder auf der Bühne des
Geschehens aufzutauchen? Die sich mit der eigenen relativistisch
konservierten Kopie herumstreiten? Natürlich könnte ich in
meiner Geschichte noch weiter ausholen, wenn du mir von deinen
Eltern erzähltest. Allerdings weiß ich natürlich,
dass sie nicht präsent sein werden, um Fragen direkt zu
beantworten. Aber wir stoßen überraschend schnell wieder
auf die langweilige

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