Accelerando
Ambers
Reise zu Hause geblieben ist und die Suppe hat auslöffeln
müssen. Diese Kopie ist körperlich gealtert, hat
geheiratet, Konkurs gemacht und ist schließlich gestorben. Sind auch Schulden daraus erwachsen, dass sie ein Kind
unterstützen musste? »Ihr könnt ja nichts
dafür«, fügt sie mit zusammengebissenen Zähnen
hinzu und wirft Sadeq einen viel sagenden Blick zu.
»Das ist wirklich ein Schlamassel, den man dem Propheten,
Friede sei mit ihm, persönlich unterbreiten müsste, auf
dass er ein Urteil fällt.« Angesichts der verwickelten
Fragen, die diese Klageschrift aufwirft, wirkt Sadeq genauso
erschüttert wie sie selbst. Während er die Finger
miteinander verschränkt, lässt er den Blick nervös
durch den Saal schweifen, wobei er überall hinsieht, nur nicht
in Ambers Richtung. Und auch nicht zu Pierre, Ambers schlaksigem,
verspieltem Sternennavigator und Bettgenossen.
»Schluss damit. Ich hab doch gesagt, dass ich euch keine
Schuld daran gebe.« Amber zwingt sich zu einem Lächeln.
»Wir alle sind gereizt, weil wir hier ohne Bandbreite
festsitzen. Jedenfalls kann ich riechen, dass meine allerliebste
Mutter bei diesem Rechtsstreit ihre Hand im Spiel hat. Das ist ganz
ihre Handschrift. Wir werden schon einen Ausweg finden.«
»Wir könnten ja weiterziehen.« Das kommt von Ang,
die hinten im Saal sitzt. Scheu und schüchtern, wie es ihre Art
ist, macht sie den Mund fast nie ohne guten Grund auf. »Die Field Circus ist doch gut in Schuss, oder nicht? Wir
könnten kehrtmachen, zum Strahl des Routers zurückkehren,
auf Fahrtgeschwindigkeit beschleunigen und Ausschau nach einem Ort
halten, an dem wir uns niederlassen. Innerhalb von hundert
Lichtjahren muss es doch ein paar geeignete Braune Zwerge
geben…«
»Dazu haben wir zu viel Segelmasse verloren«, wendet
Pierre ein. Auch er meidet Ambers Blick. In diesem Raum schwebt viel
Unausgesprochenes: Bruchstücke von Geschichten, die von
fehlgeleiteter Liebe handeln. Doch Amber gibt vor, Pierres
Verlegenheit nicht zu bemerken. »Wir haben die Hälfte des
ursprünglichen Segels, des Startsegels, abgeworfen, um bei
Hyundai +4904 / -56 den Bremsspiegel anzubringen.
Und vor knapp acht Megasekunden haben wir zugunsten eines letzten
Abbremsstrahls, ehe wir in die Umlaufbahn Saturns eintauchen, die
Fläche ein weiteres Mal halbiert. Würden wir das nochmals
tun, hätten wir nicht mehr genügend Fläche übrig,
um den Trick bei einem Abbremsmanöver vor unserem
endgültigen Bestimmungsort zu wiederholen.« Von Lasern
angetriebene Lichtsegel arbeiten mit Spiegeln; nach dem Auftrieb kann
man die Hälfte des Segels abwerfen und dazu nutzen, den
Startstrahl umzukehren und zurück auf das Schiff zu lenken,
damit sich dessen Geschwindigkeit verringert. Allerdings kann man das
Manöver nur ein paarmal durchfuhren, danach geht einem die
Segelfläche aus. »Wir können nirgendwo
abtauchen.«
»Nirgendwo abtau…« Amber starrt Pierre mit
zusammengekniffenen Augen an. »Manchmal gibst du mir wirklich
Rätsel auf, weißt du das?«
»Weiß ich.« Und Pierre weiß es
tatsächlich, denn in seiner Society of Mind schleppt er
einen kleinen Homunkulus mit sich herum. Und dieses Modell von Amber
ist sehr viel akkurater und detaillierter, als irgendein Mensch es
vor dem Zeitalter des Uploading je hätte von seiner Geliebten
anfertigen können. (Ihrerseits hält Amber eine kleine
Pierre-Puppe im unheimlichen Spinnennetz ihres Kopfes verborgen, das
ist Teil eines Austauschs von Einblicken in den Partner, den Pierre
und Amber schon vor Jahren vorgenommen haben. Allerdings versucht sie
jetzt nicht mehr allzu oft, in seinen Kopf zu schlüpfen: Es ist
nicht gut, jedes Mal vorherzusehen, was der Geliebte empfinden oder
tun wird.) »Und ich weiß auch, dass du losstürmen und
den Stier bei den… äh, nein, falsche Metapher. Wir reden
hier ja von deiner Mutter, nicht wahr?«
»Von meiner Mutter.« Amber nickt nachdenklich.
»Wo steckt Donna eigentlich?«
»Ich weiß nicht, wo…«
Von hinten ist ein kehliges Brüllen zu hören, und Boris
stapft mit irgendeinem Ding in seinem Maul nach vorn: Es ist eine
wütende Bolex, die mit ihrem dreibeinigen Stativ auf seine
Schnauze einschlägt. »Verstecken Sie sich mal wieder in
irgendwelchen Ecken?«, fragt Amber verächtlich.
»Ich bin doch eine Kamera!«, entgegnet die Bolex
peinlich berührt, während sie sich vom Fußboden
aufrappelt. »Ich bin…«
Pierre beugt sich nah über sie und presst das Gesicht gegen
das Fischaugenobjektiv.
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