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Accelerando

Accelerando

Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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unten aus
eng anliegender echter Seide besteht. In die schwarze Seide sind
flexible Röhrchen und silbern schimmernde Netze intelligenter
Sensoren eingewebt.) »Es kommt die Zeit, in der man dem Neuen
nicht mehr im Weg stehen darf. Und ich glaube, diesen Zeitpunkt habe
ich schon längst überschritten.«
    »Hm.« Irgendwie wundert sich Sirhan über diesen
neuen Aspekt in der langen Lebensbeichte, mit der sie ihr eigenes
Handeln rechtfertigen will. »Aber was ist, wenn du das nur
deshalb sagst, weil du dich anfühlst? Falls es sich nur
um ein Versagen des Körpers handelt, könnten wir das schon
wieder hinkriegen. Und dann würdest du…«
    »Nein! Ein Gefühl sagt mir, dass die
Lebensverlängerung in moralischer Hinsicht falsch ist, Sirhan.
Damit fälle ich kein Urteil über dich; ich sage nur,
dass ich es für mich persönlich als falsch empfinde. Es ist
unmoralisch, weil es in die natürliche Ordnung eingreift und
dafür sorgt, dass wir wie alte Spinnweben immer noch hier
herumhängen und euch jungen Dingern in die Quere kommen.
Darüber hinaus stellen sich ja auch theologische Fragen. Wenn
man versucht, ewig zu leben, kommt man nie dazu, seinem Schöpfer
zu begegnen.«
    »Seinem Schöpfer? Also glaubst du an Gott?«
    »Ich… denke schon.« Pamela verstummt für eine
Weile. »Obwohl es so viele Haltungen zu diesem Thema gibt, dass
man kaum wissen kann, welcher Version man glauben soll. Lange habe
ich insgeheim befürchtet, dein Großvater hätte
tatsächlich die Antwort darauf gefunden und ich mich die ganze
Zeit geirrt. Doch inzwischen…« Sie lehnt sich auf ihren
Stock. »Als er ankündigte, er werde sich heraufladen, habe
ich gemerkt, dass er in Wirklichkeit nur einer das Leben
verachtenden, menschenfeindlichen Ideologie anhing und sie mit einer
Religion verwechselte. Der Begeisterungstaumel der Nerds, das
Paradies der K.I.s – mit all dem hab ich nichts am Hut, tut mir
Leid, vielen Dank auch.«
    »Oh.« Mit zusammengekniffenen Augen blickt Sirhan auf
die Wolkenlandschaft. Einen Augenblick lang glaubt er, in
unbestimmter Ferne irgendetwas im Nebel da draußen zu erkennen
– es ist schwierig, Zentimeter und Kilometer auseinander zu
halten, wenn man über keinen rechten Maßstab verfügt
und zwischen dem eigenen Standort und dem Horizont ein ganzer
Kontinent zu liegen scheint –, doch er weiß nicht, was es
sein könnte. Vielleicht eine andere molluskenartige Stadt, die
ihre Fühler ausstreckt und einen seltsamen, schwankenden
Fortsatz aus Konstruktionsknotenpunkten mitschleppt. Gleich darauf
ist das Gebilde kurz hinter dahintreibenden Wolken verborgen, und als
sie sich verzogen haben, ist nichts mehr davon zu sehen. »Aber
was bleibt dann? Wenn du nicht wirklich an irgendeinen gütigen
Schöpfer glaubst, muss das Sterben dir doch Angst machen.
Insbesondere, da es sich bei dir so lange hinzieht.«
    Pamelas Lächeln erinnert an das Grinsen eines Skeletts und
unterstreicht ihre Freudlosigkeit nur noch. »Das ist doch
völlig natürlich, Liebling! Man muss ja nicht an Gott
glauben, um an Realitäten zu glauben, die allein im
Gedächtnis verankert sind. Mit solchen Realitäten arbeiten
wir ja Tag für Tag, sie sind Werkzeuge des Verstandes. Wenn du
menschliche Logik anwendest, wird dann nicht deutlich, dass unser
ganzes Universum wahrscheinlich eine Simulation ist? Wir leben in der
Frühzeit des Universums. Vermutlich ist das hier« –
sie deutet auf die innere Wand der Blase aus Diamantglas, welche die
empfindliche terrestrische Atmosphäre bewahrt und den heulenden
eiskalten Wasserstoff und die Methanstürme Saturns draußen
hält – »nichts anderes als eine Simulation im
Panoptikum irgendeiner uralten Geschichtsmaschinerie. Einer
Maschinerie, die nochmals alle möglichen Ursprünge von
Bewusstsein und Empfindungsvermögen abspult, Abermilliarden,
Aberbillionen von Jahren ablaufen lässt. Der Tod wird so sein,
als wache man als etwas Größeres auf, das ist alles.«
Ihr Grinsen schwindet. »Und falls nicht, bin ich einfach nur
eine verrückte alte Schachtel, die das Vergessen verdient, nach
dem sie sich sehnt.«
    »Oh, aber…« Sirhan hält inne, seine Haut
kribbelt. Vielleicht ist sie wirklich wahnsinnig, wird ihm
plötzlich klar. Nicht im klinischen Sinne verrückt,
sondern nur uneins mit dem ganzen Universum. Gefangen darin, dass sie
ihre eigene Rolle in der Wirklichkeit durch eine pathologische Brille
sieht. »Ich hatte eine Aussöhnung erhofft«, sagt
er leise. »Deine Großfamilie

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