Accelerando
fleischliche
Körper…)
Die Tanks, in denen die Passagiere der Field Circus heranreifen, sind in der »Galerie des Menschlichen
Körpers« im Bush-Flügel des Wissenschaftsmuseums
aufgereiht. Sirhan schenkt dem krebsartigen Gewebe, das dort
gärt und brodelt, kaum Beachtung. Schließlich ist es Ekel
erregend und in ästhetischer Hinsicht unangenehm anzusehen, wie
die neu gebildeten Körper langsam Fleisch auf die Rippen
bekommen und sich von leblosen Skeletten in Lebewesen verwandeln. Das
ist so, als hätte jemand wütend den Finger auf eine
Wähltaste gelegt, um den im Zeitraffer aufgezeichneten
Verwesungsprozess ins Gegenteil zu verkehren und im Schnelldurchlauf
vorzuspulen. Außerdem verraten ihm die Körper wenig
über ihre Besitzer. Dieser Prozess ist nur der unabdingbare
Vorläufer zum Hauptereignis, einem offiziellen Empfang,
verbunden mit einem Bankett. Mit dessen Vorbereitung hat er vier
Agenten beauftragt, die sich den Einzelheiten mit ganzer
Aufmerksamkeit widmen.
Hätte er weniger Skrupel, könnte er als Hacker ein Dumpster Diving durchführen und in den mentalen Archiven
dieser Menschen herumstöbern, doch so etwas zählt zu den
großen Tabus der Post-Wetware-Epoche. (In der Dreißiger-
und Vierzigerjahren waren manche Spionageeinrichtungen dazu
übergegangen, Mem-Profile zu erstellen und in den
Gedächtnissen von Menschen zu graben, erhielten dafür einen
Freibrief der Gedankenpolizei und entwickelten ihrerseits abweichende
mentale Strukturen, die sich im Informationskrieg Eindringlingen
gegenüber als resistent erwiesen. Die Nationen, für die
diese Geheimdienste arbeiteten, existieren inzwischen nicht mehr. Ihr
Hoheitsgebiet ist jetzt in dem Projekt aufgegangen, in den
Umlaufbahnen geistige Sphären zu schaffen, die letztendlich die
Materie des gesamten Sonnensystems in ein riesiges Matroschka-Gehirn
umwandeln werden. Und Sirhan hält sich notgedrungen an das eine
große Tabu, das nach Ende des zwanzigsten Jahrhunderts neu
erfunden wurde: die Unantastbarkeit von Gedanken.)
Um seine Neugier dennoch zu befriedigen, verbringt er die meisten
Stunden, in denen sein fleischlicher Körper wach ist, mit
Pamela. Hin und wieder stellt er ihr Fragen und ordnet ihre
übersprudelnde Gedankenwelt, die Gedankenwelt einer
Hypochonderin, in sein wachsendes Wissen über die
familiären Zusammenhänge ein.
»Ich war nicht immer so bitter und zynisch«,
erklärt Pamela, schwenkt den Gehstock ungefähr in die
Richtung der Wolkenlandschaft jenseits dieser Welt und fixiert Sirhan
mit glänzenden Knopfaugen. (Er hat sie in der Hoffnung hierher
gebracht, dass es bei ihr eine wahre Flut von Erinnerungen
auslösen wird – etwa Erinnerungen an Sonnenuntergänge
auf Inselparadiesen für Hochzeitsreisende –, aber alles,
was bei ihr hochkommt, scheint Gift und Galle zu sein.) »Es
liegt daran, dass ich fortwährend hintergangen wurde. Manfred
war dabei der Erste und in mancher Hinsicht auch der Schlimmste, aber
dieses kleine Miststück Amber hat mich, falls überhaupt
möglich, noch tiefer verletzt. Solltest du je Kinder haben, dann
achte darauf, dir ein Stück Eigenleben zu bewahren. Denn wenn du
das versäumst, wirst du dich sterbenselend fühlen, sobald
dir die Fetzen um die Ohren fliegen. Und wenn die Kinder dann aus dem
Haus sind, hast du keine Möglichkeit mehr, das Ganze zu
kitten.«
»Muss man unbedingt sterben?«, fragt Sirhan, obwohl er
verdammt gut weiß, dass das Sterben nicht mehr
unumgänglich ist. Aber er liefert ihr gern einen Vorwand
dafür, die längst verschorften Wunden, die ihr die Liebe
geschlagen hat, wieder aufzukratzen. Er ist sich fast sicher, dass
sie immer noch in Manfred verliebt ist. Das ist wirklich eine tolle
Familiengeschichte. Hartherzig, wie er nun mal ist, amüsiert er
sich prächtig dabei, seine Großmutter in die richtige
Stimmung für das Familientreffen zu versetzen, bei dem er den
Gastgeber spielen wird.
»Manchmal glaube ich, dass der Tod noch unvermeidlicher ist
als die Steuer«, erwidert Pamela trübsinnig. »Die
Menschen leben ja nicht in einem Vakuum. Wir sind Teil eines
größeren Lebensmusters.« Sie starrt hinaus, auf die
Troposphäre des Saturns, wo eine dünne Schneeschicht
schwebenden Methans die in der Ferne aufgehende Sonne in rubinroten
Nebel hüllt. »Das Alte weicht dem Neuen.« Sie seufzt
und zupft an ihren Manschetten. (Seitdem der Affe hier eingefallen
ist, hat sie sich angewöhnt, nur noch in einem uralten,
förmlichen Schutzanzug herumzulaufen, der von oben bis
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