Accelerando
nie, wie der Zukunftsschock wirkt.«
Annette zuckt die Achseln und greift sich mit dem gelenkigen Arm in
den Nacken, um sich zu kratzen. »Für das meiste ’ier
draußen benutzen wir Utility Fog, Peer-to-Peer-Netzwerke mit
multifunktionalen Assemblern, die auf Befehl die Gestalt
verändern und Dampf in feste Masse verwandeln können.
Textur und Farbe existieren nur dem Anschein nach, nicht in der
Realität. Aber du ’ast Recht, das ’ier ist das
Ergebnis eines Briefes, den deine Mutter an deinen Vater geschrieben
’at. Sie ’at das Zimmer ’ier’er befördert,
um dich zu überraschen. Und gebangt, ob es auch rechtzeitig da
ist.« Lippen ziehen sich von großen, viereckigen,
Blätter kauenden Zähnen zurück, sodass ein Ausdruck
entsteht, den man nach Millionen Jahren der Evolution vielleicht als
Lächeln deuten könnte.
»Du, ich… ich war darauf nicht vorbereitet. Auf das
hier.« Amber merkt, dass sie schnell atmet, ein Reflex, der
zeigt, dass sie einer Panik nahe ist. Schon die bloße Nähe
ihrer Mutter löst bei ihr unangenehme Reaktionen aus. Annette
ist in Ordnung, Annette ist cool. Und ihr Vater ist der Trickster- Gott,der sich stets im toten Winkel versteckt, um plötzlich
hervorzuspringen und sie mit zweifelhaften Geschenken zu
überhäufen. Doch Pamela hat versucht, das Kind Amber nach
ihren eigenen Vorstellungen zu formen. Und trotz all der Reisen, die
Amber seitdem unternommen hat, und obwohl sie längst erwachsen
ist, hegt sie eine irrationale, klaustrophobische Angst vor ihrer
Mutter.
»Sei nicht unglücklich«, sagt Annette voller
Anteilnahme. »Das ’ier zeige ich dir, um dir klar zu
machen, dass sie versuchen wird, dich durcheinander zu bringen. Es
ist ein Zeichen von Schwäche. Es mangelt ihr an Mut, ihre
mutigen Überzeugungen zu vertreten.«
»Wirklich?« Amber beugt sich vor, um genau
zuzuhören, denn das ist ihr neu.
»Ja. Mittlerweile ist sie eine alte, verbitterte Frau. Die
Jahre sind nicht leicht für sie gewesen. Vielleicht ’at sie
vor, ihre nicht therapierte Altersgebrechlichkeit als passive
Selbstmordwaffe einzusetzen und uns dafür verantwortlich zu
machen und uns Schuldgefühle einzubauen, weil wir sie ihrer
Meinung nach schlecht be’andelt haben. Trotzdem ’at sie
Angst vor dem Sterben. Falls du dir das zu ’erzen nimmst, wird
das ihren Egoismus nur rechtfertigen und ermutigen. Und Sirhan,
dieses dumme Kind, spielt dabei unwissentlich mit. Er ’ebt sie in den ’immel. Und indem er ihr beim Sterben
’ilft, glaubt er dazu beizutragen, dass sie ihre Vor’aben
verwirklichen kann. Schließlich ’at er bislang noch keinen
Erwachsenen kennen gelernt, der im Rückwärtsgang auf eine
Klippe zusteuert.«
»Im Rückwärtsgang.« Amber holt tief Luft.
»Willst du damit behaupten, Mom sei so unglücklich, dass
sie sich durch das Altern umzubringen versucht? Dauert das
nicht ein bisschen lange?«
Annette schüttelt bekümmert den Kopf. »Sie ’at
ja fünfzig Jahre Zeit zum Üben ge’abt. Du bist
achtundzwanzig Jahre fort gewesen! Sie war dreißig, als sie
dich bekommen ’at. Inzwischen ist sie über achtzig,
verweigert Telomere und ist ein Gründungsmitglied der Front, die
die Unantastbarkeit des Genoms auf ihre Fahnen geschrieben ’at.
Würde sie eine allmähliche Befreiung des Körpers von
Viren und eine Verjüngungstherapie akzeptieren, wäre es so,
als legte sie eine Fahne nieder, die sie ein ’albes
Jahr’undert ’ochge’alten ’at. Auch das Uploading
ist falsch in ihren Augen. Sie will nicht zugeben, dass ihre
Identität keine Konstante, sondern eine Variable ist. Sie ist in
einer Konservendose ’ier’er gereist, im Kälteschlaf,
und ’at sich weitere körperliche Schäden durch
Verstrahlung zugezogen. Sie wird nicht nach ’ause
zurückkehren. Ihre restlichen Tage will sie ’ier verbringen. Verstehst du? Deshalb ’at man dich
’ier’er geholt. Deswegen und wegen der Geldeintreiber, die
Anspruch auf die Konkursmasse deines anderen Selbst angemeldet
’aben. Im Jupiter-System warten sie mit Vollstreckungsbefehlen
auf dich und wollen deinen Kopf anzapfen, um dir deine
persönlichen Schlüsselcodes zu entlocken.«
»Sie hat mich in diese Scheiße geritten!«
»Oh, das würde ich nicht sagen. Möglich, dass wir
alle unsere Standpunkte gelegentlich wechseln. Sie ist zwar nicht
flexibel und wird nicht nachgeben, aber blöde ist sie nicht. Und
sie ist auch nicht so rachsüchtig, wie sie selbst vielleicht
glaubt. Sie ’alt sich für eine Frau, die man
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