Accelerando
hat
außergewöhnliche Zeiten hinter sich. Warum alles durch
Bitterkeit kaputtmachen?«
»Warum?« Sie sieht ihn mitleidig an. »Es war von
Anfang an kaputt, mein Lieber. Wegen allzu vieler selbstloser Opfer
und zu wenig Skepsis. Wäre Manfred nicht so scharf darauf
gewesen, sein Menschsein abzulegen, und hätte ich
rechtzeitig gelernt, ein bisschen flexibler zu sein, wären wir
heute vielleicht noch…« Sie führt den Satz nicht zu
Ende. »Das ist ja seltsam.«
»Was ist seltsam?«
Pamela hebt den Gehstock und deutet mit verwirrter Miene auf die
wogenden Gewitterwolken aus Methan. »Könnte schwören,
dass ich da draußen einen Hummer gesehen habe…«
Mitten in der Nacht erwacht Amber in Dunkelheit und erstickender
Enge und merkt, dass sie dabei ist zu ertrinken. Sie befindet sich
plötzlich wieder in dem vieldeutigen Raum am anderen Ende des
Routers. Grässliche Instrumente tasten sie ab und verfolgen jede
ihrer Erfahrungen bis in die letzten Gehirnwinkel zurück. Gleich
darauf werden ihre Lungen zu Glas und drohen zu zerspringen. Die
kalte Nachduft des Museums drückt auf ihre Lungen, sodass sie
husten und nach Luft schnappen muss.
Der harte Steinboden unter ihr und ein seltsamer Schmerz in den
Knien verraten ihr, dass sie sich nicht mehr an Bord der Field
Circus befindet. Raue Hände halten ihre Schultern fest, als
sie bei einem weiteren Hustenanfall feinen blauen Nebel ausspeit.
Auch aus den Hautporen ihrer Arme und Brüste sickert eine
bläuliche Flüssigkeit, die in merkwürdig
zielgerichteten Schwaden verdampft. »Danke«, bringt sie
schließlich keuchend hervor. »Jetzt kann ich wieder
atmen.«
Sie hockt sich auf die Fersen, merkt, dass sie nackt ist, und
versucht die Augen zu öffnen. Alles kommt ihr verwirrend und
seltsam vor, obwohl es das eigentlich nicht sein dürfte. Einen
Moment lang sperren sich ihre Augen, als wären die Lider
verklebt, dann reagieren sie. Jetzt empfindet sie alles hier als
merkwürdig vertraut, so als erwache sie erneut in einem Haus
ihrer Kindheit, das sie vor Jahren verlassen hat. Allerdings ist die
Szenerie kaum dazu geeignet, ihr Mut einzuflößen. Dichte,
tiefe Schatten liegen über eiförmigen Tanks, in denen sich
– wie in einem Albtraum oder Traum eines Anatomen –
Körper in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung befinden.
Und in der Mitte dieser Tanks sitzt eine seltsam missgestaltete
Person, die sich, nachdem sie Amber nicht mehr helfen musste, an
diesen Ort zurückgezogen hat. Bis auf spärliche
orangefarbene Körperbehaarung ist sie ebenfalls nackt.
»Bist du schon wach, ma chérie?«, fragt
der Orang-Utan.
»Hm.« Als Amber vorsichtig den Kopf schüttelt,
spürt sie Zugluft am feuchten Haar und das Streicheln einer
sanften Brise. Ein Teil ihres Ichs drängt nach außen und
versucht, die Realität zu erfassen, doch sie entgleitet ihr, ist
nicht zu durchdringen und nirgendwo eingebettet. Alles ringsum ist so
massiv und unveränderlich, dass sie kurz einen Anflug von
Platzangst hat und in Panik gerät. Hilfe! Ich bin im realen
Universum eingesperrt! Doch bei einer weiteren schnellen
Überprüfung stellt sie zu ihrer Beruhigung fest, dass sie
zumindest irgendetwas außerhalb des eigenen Kopfes
erreichen kann, und die Panik legt sich nach und nach. Ihr Exocortex
ist erfolgreich in diese Welt hinübergewechselt. »Ich bin
in einem Museum? Auf Saturn? Wer bist du? Kennen wir
uns?«
»Nicht persönlich«, erwidert der Affe vorsichtig.
»Wir ’aben miteinander korrespondiert. – Annette
Dimarcos.«
»Tante…« Eine Flut von Erinnerungen
überschwemmt Ambers fragilen Bewusstseinsstrom und reißt
sie so hin und her, dass sie gezwungen ist, sich mehrmals
aufzuspalten, bis sie alle Erinnerungen miteinander integriert hat.
Annette, in einer aufgezeichneten Nachricht: Dein Vater schickt
dir dieses Paket, damit du fliehen kannst. Es ist der legale
Schlüssel zum goldenen Käfig, in den ihre Mutter sie
bislang aufgrund des Sorgerechts einsperren konnte, und die Freiheit
ist für Amber lebenswichtig. »Ist Dad hier?«, fragt
sie voller Hoffnung, obwohl sie sehr wohl weiß, dass hier, in
der realen Welt, mindestens dreißig Jahre linearer Zeit
vergangen sind. In einem Jahrhundert, in dem zehn Jahre linearer Zeit
für mehrere industrielle Revolutionen ausreichen, bedeutet das
jede Menge Veränderungen.
»Ich weiß es nicht genau.« Der Orang-Utan blinzelt
träge, kratzt sich am linken Vorderarm und sieht sich in der
Kammer um. »Vielleicht ist er in einem
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