Accelerando

gemeinten) Geringschätzung eines
Altertumsforschers für schlaue, letztendlich aber
durchsichtige Fälschungen. Allerdings ist Sirhan noch jung
und hegt so viel Verachtung, dass er gar nicht weiß, wohin
damit, ein nützliches Ventil für seinen Frust. Und
derzeit gibt es vieles, das ihn frustriert, angefangen bei seiner
nur sehr bedingt funktionierenden Familie, bei den bereits
ausbrennenden Sternen, um die sein Planet in chaotischen
Flugbahnen kreist. Mal ist er begeistert von dieser Familie, mal
findet er sie widerlich.
    Sirhan sieht sich gern als Philosophen und Geschichtsforscher
dieses singulären Zeitalters, als einen Chronisten des
Unbegreiflichen. Was ja eine feine Sache sein könnte,
wäre da nicht die Tatsache, dass er seine größten
Erkenntnisse ausschließlich Aineko verdankt. Das
Verhältnis zu seiner Mutter, die gegenwärtig eine
führende Rolle in der Gemeinschaft der Flüchtlinge
spielt, ist prekär: Entweder katzbuckelt er vor ihr, oder er
wütet gegen sie. Seinen Vater, der in jüngster Zeit
innerhalb der Fraktion der Bewahrer zu einem weisen Patriarchen
aufgestiegen ist, verehrt er (wenn er nicht gerade versucht, sich
dessen Wünschen zu entziehen). Vor seinem Großvater
Manfred hat er insgeheim großen Respekt (mal abgesehen
davon, dass er auch einen leichten Groll gegen ihn hegt).
Eigentlich hat dessen plötzliche Reinkarnation als Mensch ihn
ziemlich durcheinander gebracht. Hin und wieder hört Sirhan
auch auf seine Stiefgroßmutter Annette, die (mehr oder
weniger) in ihrem ursprünglichen Körper aus den
Zwanzigerjahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts reinkarniert
ist nachdem sie mehrere Jahre in der Haut eines riesigen Affen
verbracht hat. Annette scheint seine Entwicklung irgendwie als
ihre persönliche Aufgabe zu betrachten.
    Nur ist Annette im Augenblick nicht sonderlich hilfreich, da
sie Amber in deren Wahlkampf unterstützt. Sirhans Mutter
kandidiert mit einem Wahlprogramm, das dazu aufruft, die Welt in
die Luft zu sprengen, Sirhans Großvater versucht ihn dazu zu
überreden, alles, was ihm lieb und teuer ist, einem aus der
Art geschlagenen Hummer anzuvertrauen, und die Katze verhält
sich so ausweichend, dass man nur typisch Katze sagen
kann.
    Eine wahre Familie zum Vorzeigen, was interne Probleme
betrifft…
     

     
    Der missratene Nachwuchs hat die ganze majestätische
Stadt Brüssel in die Saturn-Region verpflanzt. Und dazu Dutzende
Megatonnen Bausubstanz auf Nanogröße reduziert, kartiert
und ins äußere System gebeamt. Innerhalb des
Gravitationstrichters sollen die Bauten auf den Lilien-Habitaten, mit
denen die Stratosphäre des Gasriesen übersät ist,
erneut Gestalt annehmen. (Im Lauf der Zeit wird die gesamte
Erdoberfläche folgen. Und danach wird der missratene
Nachwuchs den Planeten wie einen Apfel entkernen und ihn so
auseinander nehmen, dass jede Menge neue Nanocomputer entstehen, die
auf Quantenbasis arbeiten. Auf diese Weise soll das Matroschka-Gehirn
nach und nach komplettiert werden.) Aufgrund einer Ungereimtheit in
der Platzzuteilung, die der Planungsalgorithmus des Festausschusses
vorgenommen hat – vielleicht ist es aber auch ein
ausgeklügelter Witz –, liegen die ersten Bauten von
Brüssel in unmittelbarer Nachbarschaft des Boston Museum of
Science, auf der anderen Seite einer hauchdünnen Wand aus
Diamantglas. Vom Museum bis zur Stadt ist es nur ein Katzensprung von
einigen hundert Metern. Was auch der Grund dafür ist, dass Amber
Leute gern in die große Stadt mit den hellen Lichtern
mitschleppt, wenn es einen Geburtstag oder Namenstag zu feiern gilt
(obwohl solche Rituale in dieser künstlich geschaffenen Welt
mitten in der Saturn-Region eigentlich jeder Grundlage
entbehren).
    Diesmal ist sie Gastgeberin einer recht
außergewöhnlichen Party. Auf Annettes schlauen Rat hin hat
sie dafür das Atomium gemietet und jede Menge Gäste zu
einer Großveranstaltung eingeladen. Es ist keine reine
Familienfeier – auch wenn Annette ihr eine persönliche
Überraschung versprochen hat –, sondern eher eine
geschäftliche Zusammenkunft zur Sondierung der Lage, ehe sie mit
ihrer Kandidatur offiziell herausrückt. Ein Mediencoup, der
Versuch, ihre Rückkehr in die allgemeine Politik, soweit sie
Menschen betrifft, einzuleiten.
    Eigentlich hat Sirhan gar keine Lust, daran teilzunehmen, denn er
hat viel wichtigere Dinge zu erledigen. Beispielsweise will er damit
weitermachen, Ainekos Erinnerungen an die Reise der Field Circus zu