Accelerando
steigt.
»Abgemacht.« Nachdem Manfred die primitive
Registrierkasse mit virtuellen Zahlungsmitteln gefüttert hat,
kettet sie den Koffer los. Was sie nicht registriert hat, ist die
Tatsache, dass das Unternehmen Manfred Macx wesentlich mehr als
fünfundsiebzig Euros hat springen lassen, um genau dieses
Gepäckstück erwerben zu können.
Manfred bückt sich, blickt in die im Griff eingelassene
Kamera und sagt leise: »Ich bin Manfred Macx. Folge
mir.«
Er spürt, wie der Griff wärmer wird, während er
sich Manfreds digitale und phänotypische Fingerabdrücke
einprägt. Als er sich gleich darauf umdreht und den Sklavenmarkt
verlässt, folgt ihm sein neues rollendes Gepäckstück
auf dem Fuße.
Nach einer kurzen Zugreise checkt Manfred in Milton Keynes in ein
Hotel ein. Vom Schlafzimmerfenster aus sieht er zu, wie die Sonne
untergeht. Mehrere in Beton gegossene schwarzbunte Kühe –
es sind die monströsen Skulpturen, die die kanadische
Künstlerin Liz Leyh 1978 geschaffen hat – verstellen den
Blick auf den Horizont. Das Zimmer ist zwar funktional eingerichtet,
wirkt aber allzu naturalistisch: Rattan, durch Aufforstung der
Regenwälder gewonnenes Hartholz, Läufer und Wandteppiche
aus Hanf sollen die Versorgungsleitungen und die Betonmauern
kaschieren. Gin & Tonic in greifbarer Nähe, nimmt Manfred
auf einem Sessel Platz und verleibt sich die neuesten
Wirtschaftsnachrichten ein, während er gleichzeitig den
Multikanal durchforstet. Ihm fällt auf, dass seine
Kreditwürdigkeit heute ohne ersichtlichen Grund um zwei Prozent
gestiegen ist. Wie seltsam. Als er nachhakt, merkt er, dass jedermanns Kreditwürdigkeit – das heißt: die
Kreditwürdigkeit aller Personen, die öffentlich gehandelt
werden – leicht angezogen hat. Es kommt ihm so vor, als wollten
die Server, die via Internet den Kurswert öffentlich bekannter
Persönlichkeiten verbreiten, eine Hausse der Integrität in
Gang setzen. Mag sein, dass sich weltweit ein Riesenschwindel in
Sachen Ehrlichkeit anbahnt.
Manfred runzelt die Stirn und schnippt gleich darauf mit den
Fingern. Als der Koffer zu ihm hinüberrollt, fragt er: »Wer
ist dein Besitzer?«
»Manfred Macx«, erwidert der Koffer leicht
eingeschüchtert.
»Nein, das meine ich nicht. Wer war dein früherer
Besitzer?«
»Ich verstehe die Frage nicht.«
Manfred seufzt. »Öffne dich.«
Nachdem die Verriegelung aufgeschnappt ist und sich der Deckel des
Hartschalenkoffers gehoben hat, blickt Manfred ins Innere, um sich
davon zu überzeugen, dass er tatsächlich das enthält,
was er enthalten soll.
Aus dem Koffer dringen laute Geräusche.
Willkommen im frühen Einundzwanzigsten Jahrhundert,
menschliches Wesen.
Während sich über Milton Keynes die Nacht gesenkt
hat, geht in Hongkong die Sonne auf. Moores Gesetz, das besagt,
dass sich die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung
unaufhaltsam exponentiell vervielfacht, katapultiert die
Menschheit erbarmungslos in eine ungewisse Zukunft. Die Planeten
des Sonnensystems haben zusammengenommen eine Masse von etwa 2x10
hoch 27 Kilogramm. Überall in der Welt gebären Frauen
Babys, fünfundvierzigtausend Babys pro Tag, die 1023 MIPS
Datenverarbeitungskapazität repräsentieren. Überall
in der Welt werden außerdem am laufenden Band
Mikroprozessoren produziert, mühelos dreißig Millionen
am Tag, die ebenfalls für 1023 MIPS stehen. Noch zehn Monate,
dann werden die meisten MIPS, die im Sonnensystem neu
hinzugekommen sind, zum ersten Mal vollständig von Maschinen
gesteuert werden. Rund zehn Jahre danach wird die im Sonnensystem
installierte Kapazität zur Datenverarbeitung die kritische
Schwelle von 1 MIPS pro Gramm erreichen – das sind eine
Million Instruktionen pro Sekunde und Gramm Materie. Danach wird
die Singularität eintreten. Ein unsichtbarer Punkt wird
erreicht, der bedeutet, dass jenseits davon der exponentielle
Fortschritt jede Bedeutung verliert. Es wird nicht einmal mehr
zehn Jahre dauern, bis die steil ansteigende Kurve der Entwicklung
von Intelligenzen einen ersten Höhepunkt erreicht.
Aineko rollt sich auf dem Kissen neben Manfreds Kopf zusammen und
schnurrt leise, während ihr Herrchen unruhig träumt. Die
Nacht da draußen ist dunkel: Die von Autopiloten gelenkten
Flugzeuge haben ihre Funktionsleuchten gedimmt, sodass nur der Schein
der Milchstraße die schlafende Stadt erhellt. Die von
Brennstoffzellen angetriebenen Motoren sind so leise, dass sie
Manfreds Schlaf nicht
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