Accelerando
sich sein Jackett, und die
Brillengläser trüben sich ein. Er kann hören, wie die
verlorenen Seelen der Koffer nach ihren Besitzern rufen. Das
unheimliche Gewirr klagender Stimmen macht seinem eigenen
Zubehör zu schaffen, weil es das Gefühl von Verlust
nachvollziehen kann. Einen Augenblick lang findet er das alles so
gespenstisch, dass er drauf und dran ist, die Schnittstelle zwischen
Thalamus und limbischem System, die für Empathie sorgt, zu
deaktivieren. Derzeit hat er für solche Gefühle nichts
übrig; mit dem Scheidungsschlamassel und dem Blutopfer, das Pam
von ihm zu erzwingen versucht, hat er schon genug am Hals. Ihm
wäre es lieber, man hätte so etwas wie Liebe, Verlust und Hass nie erfunden. Aber um mit der Welt in Verbindung
zu bleiben, braucht er ein Höchstmaß an sensorischen
Übermittlungen, deshalb spürt er es jedes Mal bis ins
Innerste, wenn seine Helfer sich auf ein Pyramiden-Schema einlassen
wollen, das auf nichts anderes abzielt, als auf die Mitleidstour via
Internet Geld abzuzocken. Man denke nur an den »Fall
Moldawien« im Jahre 1996, als ein Dialer unter Vorgabe
fingierter Leistungen von den Usern drei Dollar per Minute abzockte
und auf ein moldawisches Konto leitete.
Hört auf damit!, signalisiert er seiner
widerspenstigen Agentenherde. Ich kann mich ja nicht einmal mehr
selbst denken hören!
»Hallo, Sir, wünsche Ihnen einen schönen Tag. Was
kann ich für Sie tun?«, flötet der gelbe Plastikkoffer
auf dem Tresen. Doch Manfred lässt sich davon nicht
täuschen: Er kann die stalinistischen Kontrollvorrichtungen
sehen, die den Koffer mit der unter der Tischplatte lauernden
hinterhältigen Registrierkasse verbinden. Die Kasse agiert im
Auftrag der britischen Flughafenbürokratie. Aber das ist schon
in Ordnung. Nur Gepäck muss hier drinnen um seine Freiheit
bangen.
»Ich seh mich nur um«, murmelt er. Was sogar der
Wahrheit entspricht. Denn aufgrund der nicht ganz zufälligen
geheimen Routeneingabe eines Servers für Flugreservierungen ist
sein eigener Koffer auf dem Weg nach Mombasa, wo man ihn vermutlich
ausschlachten und einer neuen Verwendung im Dienste irgendeines
afrikanischen Cyber-Fagins zuführen wird. Allerdings macht das
Manfred nichts aus. Der Koffer enthält lediglich eine in
statistischer Hinsicht unauffällige Mischung aus gebrauchten
Klamotten und Toilettenartikeln. Im Übrigen hat er ihn nur
deshalb mit sich herumgeschleppt, damit er die Expertensysteme der
Fluggesellschaft, die das Profil der Passagiere durchleuchten, davon
überzeugen kann, dass er weder Sonderling noch Terrorist ist.
Dennoch stellt der Koffer jetzt eine Lücke in seinem Inventar
dar, die er stopfen muss, ehe er das Hoheitsgebiet der Supermacht EU
verlässt. Er muss einen Ersatz dafür finden, damit er bei
der Abreise genauso viel Gepäckstücke vorweisen kann wie
bei der Einreise. Mitten im transatlantischen Handelskrieg zwischen
den Protektionisten der Neuen Welt und den Globalisten der Alten Welt
möchte er nicht beschuldigt werden, illegal mit materiellen
Gütern zu handeln. Zumindest ist das die offizielle
Rechtfertigung für die Beschaffung eines Ersatzkoffers –
und daran hält er sich.
Vor dem Tresen sind nicht abgeholte Gepäckstücke
aufgereiht, die zum Verkauf angeboten werden, da niemand Anspruch auf
sie erhebt. Manche sehen sehr mitgenommen aus, aber es ist auch ein
Koffer von recht guter Qualität darunter, der automatisch Rollen
ausfahren kann und auf unbedingte Loyalität dem Besitzer
gegenüber programmiert ist. Genau dasselbe Modell wie sein
alter. Als Manfred ihn untersucht, stellt er fest, dass er nicht nur
mit GPS ausgestattet ist, sondern auch mit einem
Galileo-Ortungssystem und einem elektronischen Ortsverzeichnis, das
so umfassend ist wie der Weltatlas samt Register früherer
Zeiten. Außerdem hat dieser Koffer den eisernen Willen, seinem
Besitzer überallhin zu folgen – wenn nötig, bis zu den
Toren der Hölle. Darüber hinaus weist sein
Äußeres glücklicherweise genau das Detail auf, das
ihn von anderen Koffern unterscheiden soll: Unten links prangt ein
Kratzer.
»Wie viel kostet der hier?«, fragt Manfred den gelben
Plastikkoffer, der die Registrierkasse bewacht.
»Neunzig Euro«, erwidert er seelenruhig.
Manfred seufzt. »Kann ja wohl nicht dein Ernst
sein.«
In der Zeit, die sie dazu brauchen, sich auf fünfundsiebzig
Euro zu einigen, sinkt der Hang-Seng-Index auf 14,16 Punkte,
während das, was vom NASDAQ noch übrig ist, um weitere 2,1
Punkte
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