Accelerando
sich
dagegen wehrt, dass Kinder vor ihrer Geburt auf behebbare, genetisch
bedingte Mängel hin untersucht werden. Wenn es etwas gibt, das
Manfred wirklich nicht ertragen kann, ist es die Vorstellung, dass
die Natur schon am besten weiß, was sie tut – obwohl
Pamela dieses Argument nicht vorgebracht hat. Ein heftiger Streit zu
viel – und er hat zurückgeschlagen, hat sich abgeseilt,
reist wieder schnell und ungebunden durch die Lande, setzt wie ein
memetischer Dynamo ständig neue Ideen in die Welt und lebt von
der Freigebigkeit, die typisch für das neue Paradigma ist.
Reicht die Scheidung ein. Auf der Grundlage
unüberbrückbarer ideologischer Differenzen.
Leder-und-Peitschen-Sex ade.
Ehe er den Hochgeschwindigkeitszug nach Rom besteigt, nimmt er
sich die Zeit, eine Ausstellung von Modellflugzeugen zu besuchen. Der
Ort ist geeignet für ein Treffen mit der CIA-Informantin, die
ihn hier ansprechen soll – er hat einen diesbezüglichen
Tipp erhalten –, außerdem sind Flugzeugmodelle in diesem
Jahrzehnt bei Hackern angesagt. Statte Flieger aus Balsaholz mit
Mikrotechnologie, Kameras und neuronalen Netzwerken aus, schon hast
du die nächste Generation von militärischen Tarnflugzeugen.
Es ist eine Ausstellung und Zusammenkunft der talentierten,
ideenreichen Szene, wie die Hacker-Kongresse früherer Zeiten.
Diese spezielle Show findet in einem heruntergekommenen Supermarkt
auf der grünen Wiese statt, der seine Verkaufsflächen
für Veranstaltungen wie diese vermietet. Dass der Supermarkt
leer steht, ist ein Zeichen der Zeit, denn Datenübertragen sind
inzwischen allgegenwärtig und das Benzin teuer. (Im Gegensatz zu
diesem Supermarkt ist das voll automatisierte Lagerhaus nebenan
ausgelastet und überaus eifrig damit beschäftigt, Pakete
für die Heimzustellung zu packen. Unabhängig davon, ob
Menschen die Telekommunikation bevorzugen oder sich persönlich
und vor Ort in Büros zusammenscharen: Essen müssen sie
ja.)
Heute drängen sich die Leute im Lebensmittelmarkt.
Unheimliche künstliche Insekten summen bedrohlich über den
glänzenden leeren Fleischtheken und haben offenbar keine Angst,
aufgrund von Kabeln und Leitungen zu verschmoren. Große
Monitoren oberhalb der Vitrinen für Delikatessen zeigen die
verrückte, hin und her springende Ansicht eines
dreidimensionalen Albtraums in den synthetischen Farben von
Radarstrahlen. Die Regale mit Hygieneartikeln für Frauen hat man
nach hinten gerollt, um Platz für einen gigantischen, mit
Plastik überzogenen Tampon zu schaffen, der fünf Meter lang
und sechzig Zentimeter breit ist – Werbung für einen
Mikrosatelliten. Die Sponsoren der Show haben ihn dort mit dem
durchsichtigen Ziel angebracht, talentierte, junge Ingenieurfreaks
auf aufsteigendem Ast damit anzulocken und zu orten.
Manfreds Brille zoomt einen besonders reizvollen Dreidecker von
Fokker heran, der auf Gesichtshöhe durch die Menge brummt, und
speist die Bilderflut in Echtzeit in eine seiner Websites ein. Die
Fokker zieht hoch, vollführt eine enge Kehre à la
Immelmann, Fliegerass des Ersten Weltkriegs, fliegt unter den in
Staub gehüllten pneumatischen Geldröhren links und rechts
der Wand hindurch und setzt einer F-104 G nach. Die Luftwaffe des
Kalten Krieges und die des Ersten Weltkrieges liefern sich eine
komplizierte Verfolgungsjagd und schießen kreuz und quer durch
die Luft. Manfred sieht den Schlachtvögeln so hingerissen zu,
dass er fast über die Abschussrampe des dicken weißen
Tampons stolpert.
»Ey, Manfred! Besser aufpassen, s’il vous
plaît!«
Er wendet den Blick von den Flugzeugen ab und sieht sich um.
»Kennen wir uns?«, fragt er höflich, obwohl er gerade
den Schock des Wiedererkennens erlebt.
»Von Amsterdam, ist drei Jahre ’er.« Als die Frau
im Zweireiher ihn ansieht, zieht sie eine Augenbraue hoch. Die
elektronische Sekretärin, die für seine gesellschaftlichen
Angelegenheiten zuständig ist, hat die frühere Begegnung
gespeichert und flüstert ihm etwas ins Ohr. »Annette aus
der Marketing-Abteilung von Arianespace?« Während sie es
mit einem Nicken bestätigt, mustert er sie aufmerksam. Immer
noch bevorzugt sie die Retro-Mode im Stil des vergangenen
Jahrhunderts, was ihn schon bei ihrer ersten Begegnung irritiert hat.
Sie erinnert an einen Geheimdienstler aus der Kennedy-Ära: kurz
geschorene, gebleichte Haare, die ihr das Aussehen eines gereizten
Albino-Igels verleihen, blassblaue Kontaktlinsen, schwarze Krawatte,
schmale Revers. Nur ihre Hautfarbe
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