Accelerando
kampflos auf. Und Manfred hat derzeit keine Lust auf
eine Auseinandersetzung. Er fühlt sich so, als hätte ihn
das Wochenende völlig ausgelaugt, fühlt sich wie eine
leichte, leere Hülle, die jeder heftige Wind davontragen
könnte. In den letzen Stunden hat er noch keine patentierbare
Idee gehabt. Das ist für einen Montagmorgen kein guter Anfang.
Schon gar nicht, wenn man einen Termin mit dem früheren
Wirtschaftsminister hat und ihm ein besonderes Geschenk
präsentieren möchte – ein Geschenk, das den Minister
womöglich in ein höheres Amt katapultieren und ihn selbst
aus den Klauen des von Pam beauftragten Anwalts befreien könnte.
Aber irgendwie schafft Manfred es trotzdem nicht, sich allzu viele
Sorgen zu machen: Annette hat ihm gut getan.
Als Privatperson ist der ehemalige Minister ganz anders als
erwartet. Bisher hat Manfred ihn nur als aalglatten Avatar erlebt,
der sich der Öffentlichkeit in einem konservativ geschnittenen
Anzug präsentiert, wenn er im Cyberspace eine Rede vor dem
Abgeordnetenhaus hält.
Deshalb ist Manfred auch nicht auf den Empfang gefasst, der ihn
erwartet, nachdem er auf die Klingel an der weiß
getünchten Haustür gedrückt hat: Ihm macht ein
Muskelprotz auf, der so aussieht, als wäre er direkt den
erotischen Fantasien des Künstlers Tom of Finland entsprungen
– perfekt, einschließlich der Hosenträger und der
Lederkappe.
»Hallo, ich habe einen Termin mit dem Minister«, sagt
Manfred argwöhnisch. Aineko, die auf seiner linken Schulter
thront, versucht zu übersetzen und trillert etwas, das
außerordentlich wichtig klingt. Aber auf Italienisch klingt ja
alles sehr wichtig.
»Alles klar. – Ich bin aus Iowa«, sagt der Kerl am
Eingang, schiebt den Daumen unter einen der Lederriemen und verzieht
die Lippen unter dem Schnauzer zu einem Grinsen. »Um was
geht’s denn?« Über die Schulter ruft er: »Gianni,
Besuch für dich!«
»Es geht um die Volkswirtschaft«, erklärt Manfred
vorsichtig. »Ich bin hier, um sie überflüssig zu
machen.«
Der Muskelprotz zieht sich langsam von der Tür zurück,
als hinter ihm der Minister auftaucht. »Ah, Signore Macx! Alles
in Ordnung, Johnny, ich habe ihn erwartet.« Gianni
begrüßt ihn hastig. In seinem weißen
Frotteebademantel wirkt er wie ein hyperaktiver Gnom. »Bitte
treten Sie ein, mein Freund! Sicher sind Sie müde von der Reise.
Bitte besorg unserem Gast eine Erfrischung, Johnny. Möchten Sie
Kaffee oder lieber etwas Stärkeres?«
Fünf Minuten später ist Manfred bis zu den Ohren in
einem Sofa aus butterweichem, butterweißem Rindsleder versunken
und balanciert eine Tasse mit beängstigend starkem Espresso auf
den Knien, was nicht ohne Risiko ist. Derweil ergeht sich Seine
Exzellenz Gianni Vittoria darüber, wie schwierig es ist, einem
bürokratischen System aus dem letzten Jahrhundert, das seine
Wurzeln in der starrköpfigen Moderne der Zwanzigerjahre hat, ein
postindustrielles Ökosystem aufzupflanzen. Gianni ist ein linker
Visionär, ein seltsamer Attraktor in der chaotischen Raumzeit,
in der sich die italienische Politik momentan bewegt. Früher
einmal war er Professor für Marxistische Wirtschaftstheorie,
deshalb bestimmt ein schmerzhaft ehrlicher Humanismus seine Ideen.
Alle, selbst seine Feinde, sind sich darin einig, dass er einer der
größten Theoretiker der Post-EU-Epoche ist. Allerdings
steht ihm seine geistige Integrität dabei im Weg, bis zur Spitze
aufzusteigen. Und seine Kampfgefährten gehen noch viel grober
mit ihm um als seine ideologischen Gegner. Sie beschuldigen ihn des
schlimmsten politischen Verbrechens überhaupt: Ihm ist die
Wahrheit wichtiger als die Macht.
Manfred ist Gianni zum ersten Mal in einem Chat Room für
politische Diskussionen begegnet, das ist schon einige Jahre her.
Anfang letzter Woche hat er ihm ausführliche Überlegungen
dazu geschickt, wie die Planwirtschaft in die allgemeine Wirtschaft
integriert werden kann. Manfred hat auch konkrete Vorschläge
dafür ausgearbeitet, wie dieses Modell dazu zu nutzen wäre,
um die endlosen Versuche Italiens zur Neustrukturierung des
Regierungssystems auf einen Schlag zum Erfolg zu führen. Denn
eben darum geht es im Grunde. Falls Manfred richtig liegt,
könnte sein Vorschlag der Katalysator für eine neue
Entwicklung sein, für eine neue Welle kommunistischer Expansion,
die anstelle von Wunschvorstellungen und Ideologie von humanistischen
Idealen und nachweislich höherer Effizienz vorangetrieben
wird.
»Das ist nicht realistisch, wie ich
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