Accelerando
fürchte. Das hier
ist Italien, mein Freund. Jeder hier will mitmischen. Doch nicht
jeder ist in der Lage, das, was unser Thema ist, auch nur zu
verstehen. Allerdings wird das niemanden davon abhalten mitzureden.
Seit 1945 verlangt unsere Regierungsform allseitige Zustimmung zu
Entscheidungen. Das ist eine Reaktion auf frühere Entwicklungen.
Wissen Sie eigentlich, dass wir fünf verschiedene Wege
dafür haben, ein neues Gesetz durchzubringen? Zwei davon wurden
als Krisenmaßnahmen nachträglich hinzugefügt, um aus
festgefahrenen Situationen herauszukommen. Und keine Lösung
funktioniert unabhängig von der anderen, es sei denn, man bringt
eine allgemeine Einigung zustande. Ihr Plan ist ebenso kühn wie
radikal, aber wenn er funktionieren soll, müssen wir wissen,
warum wir Menschen überhaupt noch arbeiten sollen – und das
berührt die Wurzeln unseres Menschseins. Das wird nicht
allgemeine Zustimmung finden.«
An diesem Punkt wird Manfred klar, dass er auf verlorenem Posten
steht. »Das verstehe ich nicht«, erwidert er, ehrlich
verwirrt. »Was hat denn die condition humaine mit der
Wirtschaft zu tun?«
Unvermittelt seufzt der Minister. »Sie sind ein sehr
ungewöhnlicher Mensch. Sie verdienen kein Geld, stimmt’s?
Und dennoch sind Sie reich, weil dankbare Leute, die von Ihrer Arbeit
profitiert haben, Ihnen alles geben, was Sie brauchen. Sie
ähneln einem mittelalterlichen Troubadour, an dem die
Aristokratie Gefallen gefunden hat. Ihre Arbeit ist nicht entfremdet
– Sie schenken sie her. Und Ihre Produktionsmittel haben Sie
ständig dabei, in Ihrem Kopf.«
Manfred zwinkert verblüfft. Der Jargon klingt in seinen Ohren
seltsam technisch, aber dennoch so, als berücksichtige Gianni
dabei viele unterschiedliche Perspektiven; er gewährt ihm einen
beunruhigenden Blick auf die Welt derjenigen, die mit dem
Zukunftsschock nicht zurechtkommen werden. Erstaunt stellt er fest,
dass er es gar nicht mag, irgendetwas nicht zu begreifen.
Mit dem Fingerknöchel, der einer Walnuss ähnelt, tippt
sich Gianni an die schüttere Schläfe. »Die meisten
Menschen verbringen nur wenig Zeit im eigenen Kopf. Sie können
nicht begreifen, wie Sie leben. Sie sind wie mittelalterliche Bauern,
die verwirrt auf den Troubadour blicken. – Das System, das Sie
zum Aufbau einer funktionierenden Planwirtschaft erfunden haben, ist
ganz wunderbar und dazu noch elegant: Lenins Erben wären vor
Ehrfurcht erstarrt. Aber es ist kein System, das sich für unser
neues Jahrhundert eignet. Es ist nicht menschlich.«
Manfred kratzt sich am Kopf. »Und mir scheint an der Wirtschaft des Mangels nichts Menschliches zu sein.
Außerdem werden die Menschen in wenigen Jahrzehnten als
Wirtschaftseinheiten sowieso überflüssig sein. Alles, was
ich will, läuft darauf hinaus, jeden Menschen über seine
kühnsten Träume hinaus reich zu machen, ehe diese
Entwicklung eintritt.« Er hält kurz inne, um einen Schluck
Kaffee zu trinken und nachzudenken. Eine ehrliche Stellungnahme
muss mit Ehrlichkeit erwidert werden. »Außerdem geht
es mir auch darum, das nötige Geld für die Regelung meiner
Scheidung aufzubringen.«
»Tatsächlich? Nun, dann erlauben Sie mir, Ihnen meine
Bibliothek zu zeigen, mein Freund.« Gianni steht auf. »Hier
entlang.« Er schlendert aus dem weißen Wohnzimmer mit den
Fleisch fressenden Sofas und steigt eine gusseiserne Wendeltreppe
hinauf, die zu einer zweiten Ebene unterhalb des Daches führt.
»Menschen sind nun mal nicht rational«, ruft er Manfred
über die Schulter zu. »Das war der große Irrtum der
Ökonomen der Chicagoer Schule, allesamt Neoliberale, und auch
der Irrtum meiner Vorgänger. Würde sich menschliches
Verhalten nach logischen Prinzipien richten, gäbe es
schließlich keine Glücksspiele, hm? Schließlich
gewinnt immer das Haus.«
Die Treppe mündet in einen weiteren luftigen, weiß
getünchten Raum, dessen eine Wand vollständig von einem
hölzernen Bord ausgefüllt wird. Darauf stehen zahlreiche
uralte, kreuz und quer verkabelte Server und ein sehr neuer, solider
Volume Renderer zum Visualisieren von dreidimensionalen
Datensätzen, der so teuer aussieht, dass es einem das Wasser in
die Augen treiben könnte. Die gegenüberliegende Wand weist
vom Boden bis zur Decke Bücherregale auf. Als Manfred die
altmodischen Low-Density-Medien betrachtet, muss er niesen. Der
Anblick von so viel Datendichte, die eher in Kilogramm per Megabyte
als umgekehrt zu messen ist, benebelt ihn vorübergehend.
»Was kann das Ding da?«,
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