Accelerando
schwachen, auf Industrie basierenden
Wirtschaft sind nach und nach verschwunden; jetzt zählt nur noch
das, was man früher den Hightech-Sektor nannte. Genau das ist in
dieser Epoche der Motor des Wirtschaftswachstums. Wir können uns
ruhig ein bisschen Verschwendung leisten, mein Freund, wenn das der
Preis dafür ist, die Menschen bei Laune zu halten, bis Geld
überhaupt nichts mehr bedeutet.«
Manfred dämmert etwas. »Sie wollen nicht nur das Geld
abschaffen, sondern auch die Wirtschaft des Mangels!«
»Allerdings.« Gianni grinst. »Und es geht dabei um
mehr als um wirtschaftliche Abläufe. Man muss Überfluss als
entscheidenden Faktor betrachten. Man braucht keine Wirtschafts planung, sondern muss der Wirtschaft gewisse Dinge entziehen. Bezahlen Sie etwa für die Luft, die Sie atmen? Sollen
heraufgeladene Intelligenzen, die nach und nach das Rückgrat
unserer Wirtschaft darstellen werden, die Zyklen der
Datenverarbeitung etwa bezahlen? Nein und nochmals nein. Also gut,
möchten Sie wissen, wie Sie Ihre Scheidung bezahlen können?
Vielleicht kann ich Sie und Ihre neue Managerin mit den interessanten
Referenzen für eines meiner kleinen Projekte
begeistern?«
Die Fensterläden werden zurückgeklappt, die
Vorhänge aufgezogen und Annettes riesige Wohnzimmerfenster
geöffnet, sodass die morgendliche Brise hereindringen kann.
Manfred sitzt auf einem mit Leder überzogenen Klavierhocker,
zu seinen Füßen liegt der geöffnete Koffer. Er hat
den Koffer an Annettes uralte freistehende Stereoanlage
angeschlossen, die über Satellit mit dem Internet verbunden ist.
Irgendjemand hat an dem Gerät herumgepfuscht und den
Kopierschutz auf grobe Weise außer Kraft gesetzt. In die
Rückseite des Gehäuses haben sich Spuren eines
Lötkolbens eingebrannt.
In einen Kaftan gehüllt und mit einer Hochfrequenzbrille
ausgerüstet, hat Annette es sich auf dem großen Sofa
bequem gemacht. Gemeinsam mit Kollegen aus dem Iran und aus Guyana
versucht sie ein Problem zu lösen, das im internen Terminplan
von Arianespace aufgetreten ist.
Manfreds Koffer ist voller Tonspuren, aber das, was aus der
Stereoanlage dringt, ist Ragtime. Wenn man die Entropie vom
Datenstrom abzieht (und ihn dabei zufällig auch noch
dekomprimiert), ist das, was übrig bleibt, reine Information.
Bei einer Kapazität von rund einer Billion Terabytes
verfügt der holografische Speicher des Koffers über
genügend Platz für jede Musik, Film- und Videoproduktion
des zwanzigsten Jahrhunderts und ist noch nicht einmal voll. Die
Urheberrechte sind bei all diesen Produktionen nicht mehr wirksam
geschützt; es sind mit einmaliger Abschlagszahlung abgegoltene
Auftragsarbeiten für Unternehmen, die mittlerweile bankrott
sind, und sie wurden vertrieben, ehe die CCAA, die Copyright Control
Association of America, ihr hartes Regiment in der Medienbranche
durchsetzen konnte.
Manfred lässt die Musik über Annettes Stereoanlage
laufen, ohne die Nebengeräusche der ursprünglichen
Aufnahmen zu filtern. Auch hochgradige Entropie hat ihren
Wert…
Plötzlich seufzt er und schiebt die Brille auf die Stirn,
sodass er die Displays nicht mehr vor Augen hat. Inzwischen hat er um
fünf Ecken herumgedacht, um das Vexierbild dessen, was vor sich
geht, besser zu durchschauen. Allerdings sieht es so aus, als
hätte Gianni Recht gehabt: Man kann nichts unternehmen, bis alle
Beteiligten auf der Bühne erscheinen.
Einen Moment lang fühlt er sich alt, niedergedrückt und
so schwerfällig wie jemand, dessen Verstand über keine
Zuarbeiter verfügt. Seit er gestern aus Rom zurückgekommen
ist, sind seine Agenten ständig ausgeschwärmt und haben
sich mit neuen Informationen zurückgemeldet. Er springt
gedanklich hin und her, ist gereizt und unfähig, sich auf
irgendetwas zu konzentrieren, während die
Informationsströme sich um die Vorherrschaft in seinem Kortex
streiten und sich mit Lösungen für seine missliche Lage
herumschlagen.
Annette nimmt seine Stimmungsschwankungen erstaunlich gelassen
hin. Er weiß zwar nicht genau, woran das liegt, sieht aber
liebevoll zu ihr hinüber. Sie hat sich so heftig in gewisse
Ideen verrannt, dass es ihn verblüfft. Es liegt auf der Hand,
dass sie ihn für ihre eigenen Zwecke benutzt; warum also
fühlt er sich in ihrer Gegenwart wohler als früher mit
Pam?
Sie streckt sich und schiebt die Brille hoch. »Oui?«
»Hab nur nachgedacht.« Er lächelt. »Schon drei
Tage, und du hast mir noch immer nicht gesagt, was ich mit mir
anfangen
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