Accelerando
behaupten, dass Manfred das keineswegs lustig findet, wäre
noch untertrieben. Wäre er innerlich nicht so mit Annettes
Gefühlszustand beschäftigt und wegen des Überfalls der
Ganoven so nervös, hätte er getobt; aber er ist immer noch
so weit Mensch, dass er zuerst auf Menschliches reagiert. Also
beschließt er zwar, etwas gegen die Klagen zu unternehmen,
denkt aber vor allem an das herumschwenkende Gewehr und an Annette
und die coole Art der Travestie, die sie gestern Abend im Dresscode
für sie beide ausgedrückt hat.
Travestie, Sex und Netzwerke – all das geht ihm durch den
Kopf, als Glashwiecz nochmals anruft.
»Hallo?«, meldet sich Manfred völlig in Gedanken,
weil ihn der Klage-Bot beschäftigt, der seine Systeme
attackiert.
»Macx! Der schwer zu fassende Macx!« Glashwiecz klingt
eindeutig so, als wäre er außer sich vor Freude, sein Ziel
aufgespürt zu haben.
Manfred zuckt zusammen. »Wer ist dran?«
»Ich habe Sie gestern angerufen«, sagt der Rechtsanwalt.
»Sie hätten besser daran getan zuzuhören.« Er
lacht glucksend, was sich grässlich anhört. »Jetzt hab
ich Sie.«
Manfred streckt das Telefon vom Gesicht weg, als wäre es
verseucht. »Ich zeichne das Gespräch auf«, warnt er.
»Wer, zum Teufel, sind Sie überhaupt, und was wollen
Sie?«
»Ihre Frau hat unsere Kanzlei damit beauftragt, ihre
Interessen in der Scheidungssache zu vertreten. Gestern habe ich Sie
angerufen, um Sie darauf hinzuweisen, dass Ihnen aus objektiver Sicht
kaum noch Optionen bleiben. Ich habe eine einstweilige Verfügung
vorliegen, vor drei Tagen gerichtlich abgesegnet, die besagt, dass
Ihr ganzes Vermögen bis auf Weiteres auf Eis gelegt wird.
Ungeachtet Ihrer lächerlichen Dachgesellschaften, wird Ihre Frau
Ihnen genau das abknöpfen, was Sie ihr schulden. Nach Steuern,
natürlich. In diesem Punkt ist sie sehr stur.«
Manfred sieht sich um und drückt kurz auf die STUMM-Taste.
»Wo ist mein Koffer?«, fragt er Aineko. Die Katze
schlängelt sich davon, ohne ihn zu beachten.
»Scheiße.« Er kann den neuen Koffer nirgendwo sehen.
Gut möglich, dass er schon auf dem Weg nach Marokko ist, samt
seines unbezahlbaren Inhalts von High-Density-Tonspuren. Er wendet
seine Aufmerksamkeit wieder dem Telefon zu: Glashwiecz schwallt noch
immer, redet über gütliche Einigungen nach dem
Billigkeitsrecht, angewachsene Steuerschulden (offenbar Ausgeburten
der Fantasie, aber mit Pams Stempel drauf) und die Notwendigkeit, vor
Gericht alles einzugestehen und sich zu den eigenen Sünden zu
bekennen.
»Wo ist der verdammte Koffer?« Er schaltet die
Sprechverbindung wieder ein. »Halten Sie bitte mal die Klappe,
verdammt noch mal. Ich versuche nachzudenken.«
»Ich werde keineswegs die Klappe halten! Für Sie ist
bereits ein Gerichtstermin angesetzt, Macx. Sie können sich
nicht für immer und ewig vor Ihren Pflichten drücken.
Schließlich haben Sie eine Frau und eine hilflose Tochter,
für die Sie sorgen müssen…«
»Eine Tochter?« Das reißt Manfred sofort aus den
Grübeleien über den Koffer.
»Wussten Sie das nicht?« Glashwiecz klingt freudig
überrascht. »Sie wurde am letzten Donnerstag aus dem
Brutkasten genommen. Völlig gesund, soweit ich weiß. Ich
dachte, das sei Ihnen bekannt. Sie dürfen sich Ihre Tochter
über die Webcam der Klinik ansehen. Jedenfalls will ich Ihnen
als Letztes Folgendes zu bedenken geben: Je eher Sie zu einer
gütlichen Einigung kommen, desto schneller kann ich Ihre
Gesellschaften wieder freigeben. Auf Wiederhören!«
Als der Koffer, der schüchtern hinter Annettes Frisierkommode
hervorlugt, in sein Blickfeld rollt, stößt Manfred einen
Seufzer der Erleichterung aus und winkt ihn heran. Im Augenblick ist
es leichter für ihn, sich mit Plan B zu befassen als mit
Übergriffen von Gangstern, die Anhänger des
utilitaristischen Objektivismus sind, mit Annettes Schmollen, mit der
Tatsache, dass seine Frau ihn unablässig mit Klagen bombardiert,
und der Neuigkeit, dass er gegen seinen Willen Vater geworden ist.
»Komm rüber, du Herumtreiber von Gepäckstück.
Wollen mal sehen, was ich mir für meinen guten Ruf eingehandelt
habe…«
Entwarnung.
Annettes Pressekommuniqué ist harmlos und beruhigt ihn;
kichernd bekennt sie bei abgeschalteter Kamera (im Hintergrund ist zu
hören, wie Tropfen gegen den Duschvorhang klatschen), dass der
berühmte Manfred Macx ein Wochenende in Paris verbringt, um
durch die Clubs zu ziehen, sich zuzudröhnen und die Kuh fliegen
zu lassen. Oh, und er hat
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