Accelerando
gegen den Digital Millenium Copyright Act, das amerikanische Gesetz zum Schutz von Urheberrechten im
Internet. Als der gezähmte Gorilla und »Rechtsexperte«
der CCAA Glashwiecz an der Schulter packen will, mischen sich die
beiden Schützen an der Tür ein und drängen die ganze
Meute ins Treppenhaus. Während sich das Chaos draußen
fortsetzt und jede Partei mit Prozessen droht, schlägt die
Tür sich den Streithammeln vor der Nase zu, und Manfred atmet
erleichtert auf.
Annette geht zu ihm hinüber und stützt ihr Kinn auf
seinen Kopf. »Glaubst du, das funktioniert?«
»Na ja, die CCAA wird das Firmennetz eine Zeit lang mit
Klagen bombardieren, sobald jemand versucht, den Vertrieb über
einen Kanal zu organisieren, der nicht von der Mafia kontrolliert
wird. Pam bekommt die Rechte an der ganzen Musik, das ist ihre
Scheidungsabfindung, aber sie kann die Musik nicht verkaufen, ohne den Mob auf den Plan zu rufen. Und ich muss Anzeige gegen
diesen Gauner von Rechtsanwalt erheben: Falls er weiterhin versucht,
mir in die Quere zu kommen, muss er sich in politischer Hinsicht eine
kugelsichere Weste zulegen. Vielleicht sollte ich besser nicht in die
USA zurückkehren, bis die Singularität eingetreten
ist.«
»Profite ade.« Annette seufzt. »In diesem Punkt
fällt es mir schwer, dich zu verstehen. Und das gilt auch
für deine Endzeit-Besessenheit, deine ständige
Beschäftigung mit der Singularität.«
»Erinnerst du dich an den alten Aphorismus? Wenn du etwas
liebst, lass es frei. Ich habe die Musik freigelassen.«
»Aber das stimmt doch gar nicht. Du ’ast die
Rechte…«
»Ja, aber vorher, in den letzten paar Stunden, habe ich die
ganze Musik heimlich auf mehrere kryptografisch verschlüsselte
und deshalb anonyme öffentliche Speichersysteme hinaufgeladen,
also wird es zu einer wahren Flut von Raubkopien kommen.
Außerdem sind die Roboterfirmen alle darauf vorbereitet, bei
jeder Anfrage nach Urheberrechten den Musiktitel automatisch ohne
Tantiemen freizugeben. Das wird so lange funktionieren, bis die
Musikmafia herausgefunden hat, wie sie sich in die Systeme der
Roboterfirmen hineinhacken kann. Aber darauf kommt’s auch gar
nicht an. Was zählt, ist die Flut von Raubkopien. Die Mafia kann
den Vertrieb der Musik nicht verhindern. Pam kann ihren Gewinn gern
einstreichen, falls sie einen Ansatzpunkt dazu findet –
allerdings könnte ich wetten, dass ihr keine Lösung
einfallt. Sie glaubt immer noch an die klassischen Regeln der
Volkswirtschaft, an die Zuteilung von Waren unter Bedingungen des
Mangels. Aber so funktioniert das nicht, wenn es um Information geht.
Wichtig ist, dass Menschen diese Musik hören können.
Anstelle eines sowjetischen Systems zentraler Planung habe ich eine Firewall für das Netzwerk geschaffen, um das befreite
geistige Eigentum zu schützen.«
»O Manfred, du unverbesserlicher Idealist.« Sie streicht
ihm über die Schulter. »Wozu denn bloß?«
»Es geht doch nicht nur um die Musik. Wenn wir eine
funktionierende K.I. oder heraufgeladene Intelligenzen entwickeln,
brauchen wir eine Methode, um sie gegen juristische Angriffe
abzusichern. Darauf hat Gianni mich gebracht…«
Manfred ist immer noch eifrig dabei, ihr zu erklären, welche
Grundlagen er derzeit für die transhumane Explosion schafft, die
Anfang des nächsten Jahrzehnts zu erwarten ist, da unterbricht
sie ihn: Annette nimmt ihn in die Arme, schleppt ihn ins Schlafzimmer
und schläft mit ihm. Sie ist unglaublich zärtlich und ihm
unglaublich nahe. Aber das ist schon in Ordnung so: In diesem
Jahrzehnt ist er ja noch ein Mensch.
Auch das wird vorbeigehen, sagt sich der Großteil
seines Metacortex, taucht ins Netz ab, um sich irgendwo in
tiefsinnige Gedanken zu versenken, und lässt Manfreds
Körper in Ruhe, damit er die uralten Freuden entfesselter
Fleischeslust genießen kann.
der tourist
SPRING-HEELED JACK, DER BURSCHE MIT DEN FEDERNDEN ABSÄTZEN,
rennt blindlings davon, während seine Stiefel knistern und blaue
Rauchfähnchen hinterlassen. Seine rechte Hand – er hat sie
ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten – umklammert einen
gestohlenen Datenspeicher. Sein Opfer ist auf den harten
Pflastersteinen sitzen geblieben. Vielleicht fragt sich der Mann, was
geschehen ist, vielleicht sieht er dem flüchtenden Jugendlichen
nach. Aber die vielen Touristen verstellen ihm die Sicht und er hat
sowieso keine Chance, den Straßenräuber noch einzuholen. Hit-and-run- Amnesie, vorübergehender
Gedächtnisschwund beim
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