Accelerando
Opfer eines plötzlichen
Überfalls, heißt seine Reaktion bei der Polizei, aber
für den sprunggewaltigen Jack bedeutet die Sache nur weitere
Beute, damit er sich Treibstoff für seine motorisierten
Kampfstiefel aus russischen Armeebeständen besorgen kann.
Das Opfer bleibt auf dem Katzenkopfpflaster sitzen und legt die
Hände an die schmerzenden Schläfen. Was ist passiert?, fragt sich der Mann. Die Welt besteht aus einem grellbunten Nebel
voll ohrenbetäubenden Lärms, durch den Gestalten eilen. An
den Ohren des Mannes sind Kameras befestigt, die immer wieder
rebooten: Alle achthundert Millisekunden geraten sie in Panik, denn
dann merken sie, dass sie sich ganz allein in seinem
persönlichen Orientierungsnetz befinden – ohne die
tröstliche Unterstützung einer Zentrale, die ihnen sagt,
wohin sie die empfangenen sensorischen Eindrücke
übermitteln sollen. Zwei der Handys quengeln schwachsinnig vor
sich hin: Sie streiten sich darüber, wer für die
Datenübertragung zuständig ist, und der Datenspeicher…
ist dem Mann abhanden gekommen.
Eine große Blondine, die eine in rosa Schaumstoff gewickelte
elektrische Kettensäge mit sich herumschleppt, beugt sich
neugierig über den Mann. »Alles in Ordnung mit
Ihnen?«
»Ich…« Er schüttelt den Kopf, was wehtut.
»Wer bin ich?« Der Monitor, der die Körperfunktionen
des Mannes überwacht, ist alarmiert, weil der Blutdruck gesunken
ist. Der Puls rast, und die Konzentration des Hydrocortisons im
Blutserum ist bedenklich angestiegen. Auch viele andere biometrische
Anzeichen deuten daraufhin, dass der Mann gleich in einen
Schockzustand fallen wird.
»Ich glaube, Sie brauchen einen Krankenwagen«,
verkündet die Frau und murmelt etwas in das Telefon, das an
ihrem Revers befestigt ist: »Benachrichtige einen
Notdienst.« Als könnte jemand am anderen Ende der Leitung
den Schauplatz auf diese Weise orten, deutet sie in seine Richtung
und schlendert davon, die Kettensäge unter den Arm geklemmt. Es
ist das typische Verhalten einer aus dem Süden Zugewanderten,
die sich in diesem Athen des Nordens noch nicht auskennt: Ihr ist die
Situation so peinlich, dass sie sich lieber heraushält. Erneut
schüttelt der Mann mit geschlossenen Augen den Kopf,
während mehrere Mädchen auf motorisierten Rollschuhen ihm
mit kunstvollen Schleifen ausweichen. Jenseits der Nordbrücke
beginnt eine Sirene zu schrillen.
Wer bin ich?, fragt er sich. »Ich bin Manfred«,
stellt er zu seiner Verblüffung fest und sieht zu der
Bronzestatue – einem Reiterdenkmal – hinüber, die die
Menschenmenge an dieser belebten Straßenecke überragt.
Jemand hat die Namensplakette des Denkmals mit einem Hologramm
überklebt, das die Aufschrift Hallo Cthulhu! trägt.
Wie in einem zuckersüßen japanischen Animationsfilm winken
ihm flauschige rosa Tentakeln träge zu. »Ich bin Manfred
– Manfred. Mein Gedächtnis! Was ist mit meinem
Gedächtnis passiert?« Vom offenen Oberdeck eines
vorbeifahrenden Busses deuten ältere malaysische Touristen zu
ihm hinüber. An ihm nagt das grässliche Gefühl,
irgendetwas dringend erledigen zu müssen. Ich war zu einem
bestimmten Ziel unterwegs. Was hatte ich vor? Es muss
außerordentlich wichtig gewesen sein, denkt er, kann sich
aber nicht daran erinnern, was so wichtig gewesen ist. War
unterwegs, um mit jemandem über eine bestimmte Sache zu
reden… Über was? Es liegt ihm auf der Zunge…
Willkommen! Wir befinden uns an der Schwelle zum dritten
Jahrzehnt, in einer Zeit des Chaos, die von einer allgemeinen
Depression in der Raumfahrtindustrie geprägt ist.
Der größte Teil des planetaren Denkpotenzials wird
inzwischen eher künstlich geschaffen als durch
natürliche Geburten in die Welt gesetzt. Auf jeden Menschen
kommen zehn Mikroprozessoren, und diese Zahl verdoppelt sich alle
vierzehn Monate. In der Welt, die sich ständig
weiterentwickelt, ist das Bevölkerungswachstum zum Stillstand
gekommen. Die Geburtenrate ist derart gesunken, dass sich Geburten
und Todesfälle nicht einmal mehr die Waage halten. Die
Weitsichtigeren unter den Politikern der Hightech-Nationen suchen
nach Wegen, der anwachsenden Basis von K.I.s Bürgerrechte zu
verleihen.
Am Scheitelpunkt der zweiten Rezession in diesem Jahrhundert
liegt die Erforschung des Alls immer noch auf Eis. Die malaysische
Regierung hat das Ziel bekannt gegeben, innerhalb der kommenden
zehn Jahre einen Imam auf den Mars zu entsenden, ansonsten schert
sich kaum jemand um die
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