Accelerando
darum, Menschen anzusprechen, die so
sind wie du, Amber. Du musst auch wissen, wie man mit Leuten umgeht,
die anders sind.
Ich möchte, dass du glücklich aufwächst, und das
wird nicht geschehen, wenn du nicht lernst, mit Kindern deines Alters
auszukommen. Du wirst nicht irgendein Cyborg oder ein Otaku- Freakwerden, Amber. Aber um gesund aufzuwachsen, musst du zur
Schule gehen und ein mentales Immunsystem aufbauen. Außerdem:
Was uns nicht kaputt macht, macht uns nur stärker,
stimmt’s?«
Das ist brutale moralische Erpressung, so durchsichtig wie Glas
und teuflisch manipulativ, doch Ambers corpus logica registriert es als ein Schema, das starke Emotionen
ausdrückt, und antizipiert die Möglichkeit einer
körperlichen Bestrafung, falls Amber nach diesem Köder
schnappt. Mom ist erregt, ihre Nasenlöcher sind leicht
gebläht, sie atmet schnell und die Blutgefäße in
ihren Wangen sind sichtbar erweitert. Unterstützt von ihrer
Schädelausrüstung und dem davon gesteuerten Metacortex mit
seinen diversen Agenten, ist Amber mit acht Jahren reif genug, sich
körperliche Züchtigung vorzustellen, auszumalen – und
zu vermeiden. Doch ihre kleine Statur und die mangelnde
körperliche Reife wirken so zusammen, dass sie bei Verhandlungen
mit Erwachsenen, die in einer simpleren Epoche groß geworden
sind, stets den Kürzeren zieht. Also seufzt sie nur und zieht
eine Schnute, um Mom wissen zu lassen, dass sie innerlich zwar immer
noch revoltiert, aber gehorchen wird. »O-kay, wenn du es
sagst.«
Mit abwesendem Blick steht Mom auf. Wahrscheinlich hat sie dem
Saturn gerade aufgetragen, seinen Motor warmlaufen zu lassen und das
Garagentor zu öffnen. »Ja, ich sage es, du kleiner
Dummkopf. Geh jetzt und zieh dir sofort deine Schuhe an. Ich hol dich
auf dem Rückweg von der Arbeit ab, hab was ganz Besonderes mit
dir vor. Heute Abend schauen wir uns zusammen eine neue Kirche
an.« Mom lächelt, aber die Augen lächeln nicht mit.
Amber hat bereits herausgefunden, dass sie all diese
gesellschaftlichen Dinge mechanisch durchzieht, um ihrer Tochter die
»typisch amerikanische« Erziehung des mittleren Westens
angedeihen zu lassen – oder das, was sie dafür hält.
Denn sie glaubt fest daran, dass Amber das unbedingt braucht, ehe sie
sich kopfüber in die Zukunft stürzt. Sie hat für
Kirchen genauso wenig übrig wie ihre Tochter, aber es nützt
nichts, mit ihr darüber zu streiten. »Sei jetzt ein braves
kleines Mädchen, ja?«
Der Imam sitzt in einer Moschee, die gegen rollende Bewegungen
speziell abgesichert ist, und ist ins Gebet vertieft.
Seine Moschee ist nicht besonders groß, und die Gemeinde
besteht nur aus einem einzigen Menschen. Alle
siebzehntausendzweihundertundachtzig Sekunden betet er ganz für
sich. Über das Netz sendet er den Aufruf zum Gebet auch nach
draußen, aber es gibt keine anderen Gläubigen im Raum
jenseits des Jupiters, die darauf reagieren könnten.
Zwischen den Gebeten richtet er seine Aufmerksamkeit zum einen auf
die Anforderungen der Versorgungssysteme, zum anderen auf das Studium
der Lehre. Als ein Mensch, der sich sowohl mit dem Hadith, den Lehren
Mohammeds, als auch mit auf Wissen basierenden Systemen befasst,
arbeitet Sadeq gemeinsam mit anderen Gelehrten an einem besonderen
Projekt: Sie wollen eine revidierte Zusammenfassung aller bekannten
islamischen Überlieferungen, der Isnads, erstellen, um
eine Basis dafür zu schaffen, die islamische Rechtsprechung aus
neuer Perspektive zu erforschen. Diese neue Perspektive brauchen sie
dringend, wenn der erwartete Durchbruch in der Kommunikation mit den
Aliens erzielt wird. Ihr Ziel besteht darin, eine Antwort auf die
leidigen Fragen zu finden, die den Islam im Zeitalter der
beschleunigten Wahrnehmung und des erweiterten Bewusstseins plagen.
Und da Sadeq der Vertreter der Gruppe in der Umlaufbahn um Jupiter
ist, lasten diese Fragen am schwersten auf seinen Schultern.
Sadeq ist ein schlanker Mann mit kurz geschnittenem schwarzem Haar
und ständig müdem Gesichtsausdruck. Im Unterschied zur
Besatzung des Waisenschiffs hat er das ganze Schiff für sich
allein. Ursprünglich war das Schiff der iranische Ableger einer
Shenzhou-B-Kapsel und am Heck ein Raumstation-Modul des chinesischen
Typs 921 befestigt, aber mittlerweile verfügt das unförmige
Ebenbild der Modelle aus den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts
– es sieht so aus, als hätte sich eine Libelle aus
glänzendem Aluminium mit einer Cola-Dose gekreuzt –
über eine seltsam
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