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Accelerando

Accelerando

Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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merkwürdige Frau, die auf dem
winzigen Bildschirm des Telefons auftaucht. Mom nennt sie mit seltsam
verkniffenem Lächeln die aufgetakelte Schlampe deines Vaters. (Das eine Mal, dass Amber nachgefragt hat, was eine aufgetakelte Schlampe sei, hat ihre Mutter ihr eine Ohrfeige
gegeben – nicht fest, nur als Warnung.) »Ist Daddy
da?«, fragt sie.
    Die merkwürdige Frau wirkt leicht verwirrt. (Ihr Haar ist
blond, wie Moms, allerdings kommt das Blond eindeutig aus der Tube.
Das Haar ist sehr kurz geschnitten, ihre Haut dunkel.) »Oui. Ah, ja.« Sie lächelt vorsichtig. »Entschuldigung,
aber benutzt du ein Wegwerf-’andy? Möchtest du mit ihm
sprechen?« Das alles kommt in einem einzigen Wortschwall
heraus.
    »Ich möchte ihn sehen.« Amber hält sich
am Handy wie an einem Rettungsanker fest. Es ist ein billiges
Wegwerfmodell, das einer Packung Frühstücksflocken
beigelegt war, und die Pappe weicht in ihren schweißnassen
Händen bereits auf. »Momma lässt mich nicht, Tante
Nette…«
    »Still.« Annette, die mit Ambers Vater schon mehr als
doppelt so lange wie seinerzeit Ambers Mutter zusammenlebt,
lächelt. »Bist du sicher, dass dieses Telefon… dass
deine Mutter nichts davon weiß?«
    Amber sieht sich um. Sie ist das einzige Kind in der Toilette,
denn es ist noch nicht Pause. Ihrem Lehrer hat sie erzählt, sie
müsse sofort gehen. »Ich bin sicher, der
P20-Vertrauensfaktor ist größer als 0,9.« Ihr Kopf,
in dem Bayes’ Wahrscheinlichkeitstheorem fest verankert ist,
sagt ihr, dass sie es nicht genau beurteilen kann, denn Momma hat sie
noch nie mit einem nicht registrierten Handy erwischt – aber
scheiß drauf! Es kann Dad doch nicht in eine blöde Lage
bringen, wenn er gar nichts davon wusste, oder doch?
    »Sehr gut.« Annette wirft einen Blick zur Seite.
»Manny, ich ’abe ier eine Überraschung für dich
am Apparat.«
    Daddy taucht auf dem Bildschirm auf. Sie kann sein ganzes Gesicht
sehen. Er wirkt jünger als letztes Mal. Offenbar trägt er
diese klobige alte Brille nicht mehr. »Hi – Amber! Wo
steckst du? Weiß deine Mutter, dass du mich anrufst?« Er
sieht leicht beunruhigt aus.
    »Nein«, erwidert sie selbstsicher. »Das Handy war
in einer Schachtel mit Grahams Frühstücksflocken.«
    »Puh. Hör zu, Liebes, du musst dir merken, mich niemals
von einem Apparat aus anzurufen, den deine Mutter aufspüren
kann. Sonst bringt sie ihre Rechtsanwälte dazu, mich mit
Daumenschrauben und heißen Zangen zu verfolgen, denn sie wird
behaupten, ich hätte dich dazu angestiftet. Und nicht einmal
Onkel Gianni wird es schaffen, die Sache zu bereinigen.
Kapiert?«
    »Ja, Daddy.« Sie seufzt. »Obwohl es ja gar nicht
stimmt, wie ich weiß. Willst du gar nicht hören, warum ich
anrufe?«
    »Hm.« Einen Augenblick lang wirkt er bestürzt, dann
nickt er nachdenklich. Amber mag Daddy, weil er sie meistens ernst
nimmt, wenn sie mit ihm spricht. Es ist demütigend und
lästig, dass sie dazu die Handys ihrer Klassenkameraden
ausborgen oder Moms Firewall, die scharf wie ein Pitbull ist,
austricksen muss, aber wenigstens geht Dad nicht davon aus, dass sie
keine Ahnung hat, nur weil sie noch ein Kind ist. »Schieß
los. Gibt’s etwas, das du dir von der Seele reden musst? Wie ist
es dir überhaupt ergangen?«
    Sie muss sich kurz halten. Bei diesem Wegwerf-Handy sind die
Gespräche im Voraus bezahlt, aber der internationale Tarif, den
es benutzt, ist miserabel. Jederzeit kann ein Läuten das Ende
des Gesprächs anzeigen. »Ich will da weg, Daddy, das ist
mein voller Ernst. Mom wird von Woche zu Woche verdrehter. Inzwischen
schleppt sie mich in all diese Kirchen. Und gestern ist sie
ausgerastet, als ich mit meinem Computer geredet habe. Sie will mich
zu einem Hirnklempner der Schule bringen – wozu, frage ich mich?
Ich kann einfach nicht tun, was sie von mir verlangt, ich bin nicht
ihr kleines Mädchen! Jedes Mal, wenn ich übers Netz nach
draußen gehe, versucht sie, mich mit Hilfe von Bots zu
überwachen, und davon bekomme ich Kopfweh. Ich kann nicht mal
mehr klar denken!« Zu ihrer Verblüffung merkt Amber, wie
ihr die Tränen kommen. »Hol mich da raus!«
    Der Bildausschnitt, der ihren Vater zeigt, wackelt. Gleich darauf
schwenkt die Kamera herum und zeigt Ambers ›Tante‹ Annette,
die besorgt wirkt. »Dir ist doch klar, dass dein Vater nichts
unternehmen kann? Die Scheidungsanwälte werden ihn sonst
erledigen.«
    Amber schnieft. »Kannst du mir helfen?«
    »Will sehen, was ich tun kann«, verspricht die
aufgetakelte

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