Accelerando
Sekunde auf die nächste besteht Lillys
Avatar, der bis jetzt einen metallisch glänzenden Badeanzug
trug, nur noch aus verbranntem Fleisch und winkt ihnen warnend mit
seinen Wurstfingern zu.
»Kümmer dich lieber um dich selbst und das Fenster,
durch das du hier eingestiegen bist!« Plötzlich ist das
virtuelle Vakuum jenseits des Fensters voller Körper – vor
allem menschlicher –, die sich in gespieltem Kampf verrenken,
hin und her winden und ihre Gestalt verändern. Die Hälfte
der Jugendlichen stürzt sich in den virtuellen Wettkampf auf
Leben und Tod. Damit kompensieren sie ihre Angst, die heftige Angst
vor dem, was jenseits der dünnen Wände des fliegenden
Waisenhauses liegt: eine Umgebung, die tatsächlich so
lebensfeindlich ist, wie Lillys gerösteter Avatar angedeutet
hat.
Amber wendet sich wieder ihrem Bildschirm zu. Sie ist gerade
dabei, jede Menge komplexer Modelle durchzuarbeiten, die
benötigt werden, ehe die Expedition ihre Arbeit aufnehmen kann.
Fakten und Zahlen, stets in Reichweite, stürmen in
beängstigender Weise auf sie ein. Jupiter wiegt
1,9 x 10 hoch 27 Kilogramm. Er ist von neunundzwanzig
Monden und schätzungsweise zweihunderttausend kleineren
Himmelskörpern wie zum Beispiel Asteroiden umgeben, um die sich
Raumschutt gesammelt hat – Raumschutt, der mehr Umfang hat als
die Ringfragmente. Wie Saturn ist auch Jupiter von Ringen umgeben,
auch wenn sie nicht so auffallen wie die Ringe des Saturns. Insgesamt
haben es sechs größere nationale Raumstationen bis hierher
geschafft, darüber hinaus zweihundertsiebzehn Mikrosonden, die
– bis auf sechs – von privaten Gesellschaften betrieben
werden.
Die erste menschliche Expedition haben die Studios der
Europäischen Weltraumbehörde vor sechs Jahren
zusammengestellt und auf den Weg geschickt. Ihr folgten ein paar
Spekulanten, die es auf die Ausbeute von Rohstoffen abgesehen hatten,
und vereinigte µ-commerce-Unternehmen, die überall im
Subsystem Jupiters Picosonden verteilt haben, insgesamt eine halbe
Million. Und jetzt ist noch die Sanger dazugestoßen,
zusammen mit drei weiteren Raumschiffen voller eingedoster Primaten
(eines ist vom Mars aus gestartet, die beiden anderen sind von einer
erdnahen Umlaufbahn aus aufgebrochen). Es sieht ganz danach aus, als
könnten hier bald hektische Kolonialisierungsaktivitäten
ausbrechen. Nur existieren mindestens vier verschiedene umfassende
Pläne dafür, was mit der Masse des alten Jupiters
angestellt werden soll, und jeder dieser Pläne schließt
die anderen aus.
Jemand stupst sie an. »He, Amber, was treibst du denn
so?«
Sie öffnet die Augen. »Mach meine Hausaufgaben.« Es
ist Su Ang. »Hör mal, unser Ziel ist doch Almathea,
stimmt’s? Aber wir speichern all unsere Berechnungen in Reno,
also müssen wir diesen ganzen Papierkram erledigen. Monica hat
mich um Unterstützung gebeten. Es ist der helle
Wahnsinn.«
Ang beugt sich zu ihr und liest die Werte von unten nach oben ab.
»Die Behörde für Umweltschutz?«
»Ja. Analyse 204.6b, Seite 2: Geschätzte
zukünftige Auswirkungen auf die Umwelt. Sie wollen, dass ich
alle stehenden Gewässer im Umkreis von fünf Kilometern des
vorgesehenen Schürfgebietes aufliste. Falls Sie unterhalb des
Wasserspiegels schürfen wollen, listen Sie alle Quellen,
Wasserreservoirs und Wasserläufe innerhalb des vorgesehenen
Aushubs auf (Tiefenangabe in Metern). Multiplizieren Sie diese
Angaben mit fünfhundert Metern. Berechnen Sie die Werte bis zu
einer Entfernung von zehn Kilometern in Flussrichtung der
Strömung innerhalb der geplanten Förderstrecke.
Spezifizieren Sie für jedes Gewässer die vom Aussterben
bedrohten oder gefährdeten Arten, die innerhalb eines Umkreises
von zehn Kilometern leben. Das betrifft Vögel, Fische,
Säugetiere, Reptilien, wirbellose Tiere ebenso wie
Pflanzen…«
»… und das für Schürfvorhaben auf Amalthea!
Ein Satellit, der einhundertachtzigtausend Kilometer oberhalb des
Jupiters den Planeten umkreist und keine Atmosphäre besitzt.
Außerdem kann man sich dort, wenn man sich nur eine halbe
Stunde auf der Oberfläche aufhält, eine Strahlendosis von
zehn Grays holen – so viel, dass der ganze Körper
verstrahlt wird.« Ang schüttelt den Kopf und verdirbt
gleich darauf alles, indem sie kichert. Amber blickt auf.
Irgendjemand, vermutlich Nicky oder Boris, hat eine Karikatur von
Ambers Avatar in den virtuellen Kampf geschickt, der auf der vorderen
Wand zu sehen ist. Sie wird von hinten umarmt, und zwar von einem
riesigen
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