Accra: Roman (German Edition)
Menschen ist für ihn wertlos. Sie könnten ebenso gut Abfall oder Exkremente sein. Deshalb wählte er den Müll in der Korle-Lagune für Musa, den schlammigen Graben für Ebenezer, eine Müllhalde für Comfort und nun eine Latrine für Ofosu.«
»Mit ›das Leben dieser Menschen‹ meinen Sie Straßenkinder?«
»Ja.«
»Er hasst sie.«
»Oder das, wofür sie in seiner Gedankenwelt stehen. Er könnte ein messianischer Mörder sein, der sich auf der apokalyptischen Mission befindet, uns alle von dieser Plage – also den Straßenkindern – zu befreien.«
»Was heißen würde, dass wir es mit einem Wahnsinnigen zu tun haben, richtig?«
»Gewiss, wenn wir von einer verzerrten Realitätswahrnehmung ausgehen, aber nicht von einem Psychotiker im eigentlichen Sinne. Dies sind keine psychotischen Morde, denn sie sind zu strukturiert, zu geplant. Psychotische Morde sind unstrukturiert, oft opportunistisch, geschehen aus dem Moment heraus. Das ist nicht, was dieser Bursche macht.«
»Vielleicht wurde er selbst einmal als Straßenkind traumatisiert. Vielleicht will er den Teil von ihnen töten, der noch in ihm ist.«
»Ja, das könnte durchaus sein. Haben Sie mal über eine Laufbahn in der Psychologie nachgedacht, Inspector?«
Dawson lachte. »Bei allem gebührenden Respekt, nein. Zurück zu dem Mörder. Ich verstehe immer noch nicht, wieso er die Körperteile entnimmt. Sie haben gesagt, dass es keine Ritualmorde sind, und dem würde ich gern zustimmen, nur haben wir fehlende Finger, Kniescheiben und jetzt eine Zunge? Er hat Ofosu die Zunge herausgeschnitten, das ist doch nicht zu fassen!«
Botswe nickte. »Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Und ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass er Trophäen sammelt, was Serienmörder oft tun, und dass er sich steigert. Dieser letzte Mord war bildhafter als die vorherigen – die Szenerie, die Trophäe, alles.«
»Als wollte er uns mit Ofosus Ermordung provozieren?«
»Ich bin mir fast sicher, dass er Ihre Ermittlungen in der Zeitung und auch sonst irgendwie aufmerksam verfolgt. Er könnte sich sogar in den Fall einmischen und Wege finden, wie er sich seine Arbeit ein zweites oder drittes Mal ansehen kann. Und, Inspector, wenn Sie ihn nicht aufhalten, wird er höchstwahrscheinlich wieder töten.«
42
Dawson verbrachte ein wenig Zeit mit Christine und Hosiah. Zu beider Enttäuschung musste er sie bald wieder verlassen und sich zum Bahnhofsbereich zwischen der Tudu Road, dem Kantamato-Markt, der Knutsford Avenue und der Kojo Thompson Road aufmachen.
Es war fast acht Uhr. Viele der Kinder waren schon zu ihren Schlafplätzen zurückgekehrt. Dawson fand Issa, Mosquito und den kleinen Mawusi, der sich von seinem Malariaschub erholt hatte. Aber Antwi war noch nicht da.
Äußerlich blieb Dawson ruhig, innerlich hingegen wurde er nervös.
»Ah, da kommt er«, sagte Issa endlich. Als Dawson sich umdrehte, sah er, dass Antwi angerannt kam wie ein Schuljunge, der sich verspätet hatte. Der Junge war außer Atem.
»Du bist spät, Antwi«, sagte Dawson.
»Ja, Sir, tut mir leid. Ich war in Kantamanto. Da hatte ich Arbeit gefunden.«
»Sei nächstes Mal pünktlich.«
»Ja, Sir.«
»Ich brauche eure Hilfe«, wandte sich Dawson dann an alle vier Jungen und wies sie an, sich in zwei Gruppen aufzuteilen: Issa und Antwi, Mosquito und Mawusi.
»Geht herum und holt alle zu eurem Platz. Ich möchte mit ihnen reden.«
Es dauerte eine knappe halbe Stunde, alle zusammenzurufen – Dutzende Kinder aller Altersgruppen, von sechs Jahren aufwärts. Dawson war, als spielte er Politiker, Vater, Direktorund Polizist in Personalunion. Wie alle Kinder brauchten sie eine Weile, bis sie sich gesetzt hatten und Ruhe einkehrte, aber dann hörten sie Dawson aufmerksam zu, wie sie es vermeiden konnten, zu Opfern zu werden, und wie sie einen Jäger zum Gejagten machten.
Dawson war erschöpft, als er nach Hause kam. Christine saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Dawson duschte sich den Schmutz des Tages ab. Der Wasserdruck war niedrig, doch es reichte. Anschließend küsste Dawson den bereits tief schlafenden Hosiah und ging ins Bett. Einen Moment lang dachte er über die Kinder nach, mit denen er an diesem Abend gesprochen hatte. Sie schliefen Nacht für Nacht auf dem Straßenpflaster, Hosiah in einem bequemen Bett.
Vage bemerkte er, wie Christine sich neben ihn legte. Später sah er Issa und Antwi ins Schlafzimmer kommen. Eine unsichtbare Kraft drückte Dawson nach unten und machte es ihm
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