Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Prozent der Frauen in diesem Land wird Angela Merkel nun seit einem knappen Jahr durch die Autorität ihres Amtes vor den gröbsten Respektlosigkeiten geschützt. Und einerseits liegt darin ein klarer Fortschritt – dass männliche Politiker aller Ländern lernen müssen, mit einer deutschen Regierungschefin umzugehen. Andererseits liegt darin die nächste Fassaden-Gefahr, nämlich zu glauben, eine Frau Kanzlerin wäre nun wirklich anerkannt.
Im Gefolge von »Angies« allgemein als sehr gut bewerteten internationalen Antrittsbesuchen schien es eine Weile, als könnte sich das deutsche Volk mit seiner Kanzlerin tatsächlich anfreunden. Doch spätestens seit im WM-Sommermärchen das letzte Tor gefallen war, ist auch Angela Merkel wieder im Tal der deutschen Tränensäcke angekommen. Seit Wochen hören wir den »Sie-kann-es-nicht«-Chor abermals anschwellen. Wir erleben, wie ein populistischer Pfälzer die Kanzlerin in der gefühlten Wählergunst überholt, indem er dieser höhnisch vorwirft, die eigenen Ministerpräsidenten nicht im Griff zu haben. Man darf hoffen, dass Angela Merkel Kurt Beck wenigstens hinter verschlossenen Türen darauf aufmerksam macht, dass sich ihm als Kanzler ein solches Problem im Augenblick kaum stellen würde: Der einzige starke SPD-Ministerpräsident, den er momentan im Griff behalten müsste, wäre schließlich er selbst. Und ob ihm das gelingen würde, daran darf man berechtigte Zweifel haben.
Passend zu den Herman’schen Apfelkuchen-Thesen ist sie also auch in der Politik wieder da: Die Sehnsucht nach dem bärig-bärtigen Mann, der im rechten Moment auf den Tisch zu hauen weiß, den die Frau liebevoll gedeckt hat. Ich vermag nicht zu sagen, ob Angela Merkel angesichts der Machtverhältnisse, wie sie in der real existierenden Großen Koalition bestehen, größere Gestaltungsfreiräume hätte – ob sie ihre »Richtlinienkompetenz«, die sie nun theoretisch wenigstens besitzt, markanter ausspielen könnte. Ob die Gesundheitsreform ein weniger trüber Eintopf geworden wäre, hätte Angela Merkel sie wie von ihr gewünscht in einer schwarz-gelben Koalition realisieren können. Ich kann nicht beurteilen, inwieweit sie tatsächlich »gezwungen« ist, als Regierungschefin die moderierende Gastgeberin zu spielen, als die sie momentan erscheint. Die Frage, bis zu welchem Grad sich die Kanzlerin als »biegsam« erweisen darf, ohne zu einer weiteren rückratlosen Polit-Gummipuppe zu werden, ist eine, die sich nicht leichtfertig beantworten lässt. Vieles in mir will rufen: »Unnachgiebigerwerden! Und wenn es nicht geht, dann lieber hinschmeißen!« Andererseits höre ich eine andere Stimme, die ebenso laut sagt: »Wenn sie es nicht macht, macht es eben ein Beck-Koch-Wulff. Und dann wird im Zweifelsfall alles noch schlimmer.« Denn mit Deutlichkeit vermag ich zu sagen, dass ich nicht die geringste Sehnsucht nach dem nächsten Basta-Kanzler verspüre. Es wäre schlimm, wenn wir abermals »basta« mit Stärke, Mut zu Wahrheit und klarer inhaltlicher Position verwechselten.
Die deutsche Politik ist in den letzten zwanzig Jahren schleichend verkommen. Die dominanten Sprach- und Verhaltensformen, gravierende soziale und ökonomische Probleme mit Schönreden, Aussitzen, Basta zu behandeln, wurden von westdeutschen männlichen Politikern etabliert. Es wäre eine der zynischeren Launen der Geschichte, wenn ausgerechnet eine ostdeutsche Frau dieses marode System zu seiner katastrophalen Vollendung führen sollte.
Es gab einen Moment in Angela Merkels Kanzlerschaft, da habe ich sie bewundert. Es war jener Moment, in dem sie sich traute, Deutschland endlich als das zu bezeichnen, was es ist: ein Sanierungsfall. Und ich war enttäuscht, als sie – wie jeder Politiker, der in diesen Zeiten eine Wahrheit ausspricht – angesichts des reflexartig einsetzenden Empörungsgeschreis sofort wieder zurückruderte. Wie gern würde ich ihr zurufen: »Frau Bundeskanzlerin! Mit dem Basta haben Sie schon Schluss gemacht. Jetzt machen Sie doch, bitte, als Nächstes mit dem Schönreden Schluss! Dieses Land hängt an dem politischen Fassadensprech wie der Alkoholiker an der Flasche. Die allermeisten ahnen doch, dass es so nicht weitergehen kann. Und natürlich werden die allermeisten erst einmal schreien, wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin, ihnen die Flasche wegnehmen. Aber tun Sie es! Der Süchtige braucht zwar seinen Dealer, aber letztlich verachtet er ihn, wie das Kind die übernachgiebigen Eltern verachtet. Seien Sie eine
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