Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Dorn kämpftgegen die Ernüchterung.
Mediendebatten gehorchen in ihren Gezeiten nicht notwendig den politischen Mondphasen. Dennoch kann es kein Zufall sein, dass ausgerechnet im ersten Amtsjahr der ersten deutschen Bundeskanzlerin das Land von einem medialen Geschlechter- Rollback erfasst wird, den aufgeklärte Zeitgenossen bis vor Kurzem noch für undenkbar gehalten hätten. Wer hätte geglaubt, dass ein arrivierter deutscher Zeitungsherausgeber Frauen hemmungslos als »Überlebensmaschinen« bezeichnet? Dass ein Chefredakteur bei einer öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Rundfunkanstalt seiner Ehefrau in einem offenen Brief dafür dankt, dass sie ihre akademischen Qualifikationen brachliegen lässt und stattdessen den Kindern jeden Mittag »liebevoll zubereitete Leckerbissen« auf den Tisch stellt? Und dass ein blondes Fräulein von der Tagesschau lautstark verkündet, wir Deutschen müssten endlich mit den »feministischen Tabus« auf- räumen und wieder zugeben, dass Frauen nun mal einen »schöpfungsgewollten Auftrag« besäßen, nämlich: Kinder kriegen, Klappe halten?
In gewissem Sinne muss man sagen: Danke, Frank Schirrmacher! Danke, Sigmund Gottlieb! Danke, Eva Herman! Danke, dass Sie diejenigen, die glauben wollten, das Geschlechterthema habe in diesem Land lila Rost angesetzt, eines Besseren belehrt haben!
»Wichtiger als Frauenpolitik ist eine Frau ganz vorn in der Politik. Ich bin neugierig, welche Verhältnisse in diesem Land in Bewegung geraten, wenn Angela Merkel im Herbst tatsächlich Kanzlerin ist.« Etwas mehr als ein Jahr ist es her, dass ich diese Sätze geschrieben habe. Mittlerweile wissen wir, welche Verhältnisse in Bewegung geraten sind, seit Angela Merkel Kanzlerin ist: Der politisch korrekte Geschlechterburgfrieden, der in Deutschland mit dem Ende der Frauenbewegung irgendwann in den 8oer Jahren eingezogen war, der Frauenbeauftragte und Frauenparkplätze einrichtete, der stets von »Studenten und Studentinnen«, »Managern und Managerinnen« sprach, ist brüchig geworden. Die Emanzipationsfassade, die uns gut ausgebildeten, von mehr oder weniger berufstätigen Müttern und mehr oder weniger »emanzipierten« Vätern erzogenen Frauen vorgegaukelt hatte, die Tatsache, dass wir mit doppelten X-Chromosomen ausgestattet sind, würde auf all unseren Lebenswegen kein Hindernis mehr darstellen, hat sichtbare Risse bekommen.
Ironischerweise dürfte ausgerechnet die Kanzlerin eine der Frauen sein, die der bundesrepublikanischen Emanzipationsfassade am stärksten auf den Leim gegangen ist. Der Gedanke, der nicht nur Angela Merkel, sondern viele emanzipierte Frauen aus Ost und West anleitet: »Weil es in meinem Denken und Handeln keine Rolle spielt, dass ich eine Frau bin, wird es auch für andere keine Rolle spielen« – dieser Gedanke erweist sich leider als kurzschlüssig. Noch im Mai 2005, zu Beginn des Wahlkampfs, hatte Angela Merkel in einem Interview erklärt: »Die Tatsache, dass ich eine Frau bin, wird keine Rolle spielen.« Keine fünf Monate später sagte sie: »Ich habe den Eindruck, die Tatsache, dass ich eine Frau bin, spielt für viele durchaus eine Rolle.«
Was hat Angela Merkel erkannt, das viele andere Frauen, die ein weniger extremes Lebensziel haben, noch erkennen müssen? Nun, die Bundestagswahlkämpferin und Kanzleramtsanwärterin hat am eigenen Leib eine Reihe desillusionierender Erfahrungen gemacht: Von der Gattin des Konkurrenten ums Kanzleramt musste sie sich ihre Kinderlosigkeit vorwerfen lassen. Der Boulevard ritt so lange auf ihren Frisurproblemen und Achselschweißflecken herum, bis sie nur noch mit der Offenbarung zu kontern wusste, gern Eintopf zu kochen. Männliche Parteikollegen hörten nicht auf, hinter schlecht vorgehaltenen Händen das ewige »Sie-kann-es-nicht« zu murmeln. Ein Noch-Kanzler demonstrierte am Wahlabend und in den darauf folgenden Wochen, dass er nicht nur Frauenpolitik, sondern auch demokratisch erzielte Wahlergebnisse für lästigen Firlefanz hält. Künftige Regierungsmitglieder und Politiker aus den eigenen Reihen wollten der designierten Kanzlerin die verfassungsmäßig verbriefte Richtlinienkompetenz absprechen.
All diese Erfahrungen, die Angela Merkel in exemplarischer Weise machen musste, sollten Frauen nachdenklich stimmen. Und nicht dazu verleiten, das Phänomen Merkel – sei es aus Neid, sei es aus Häme – mit dem Verweis abzukanzeln, man fühle sich von dieser »kalten Physikerin« nicht repräsentiert.
Anders als 99,99
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