Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
bekommt sie etwas Totalitäres. Sie kaschiert, was unter der Oberfläche brodelt. Sie gaukelt uns eine Sicherheit vor, die nicht existiert. Sie befördert Opportunisten, Karrieristen und Duckmäuser. Wenn die Mächtigen den Streit mit denen scheuen, die sie für ihre Klientel halten, weil sie sich die Gunst ihres Publikums nicht verscherzen wollen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als untereinander zu zanken. Weil keiner mehr für die richtigen Ziele streitet, verzetteln sich alle im Zank um Nebensächlichkeiten.
Was wären aber die richtigen Ziele, für die es sich lohnt, aufrecht und entschlossen zu streiten? Meine Antwort ist einfach: Es geht um den Erhalt oder gar die Verbesserung einer offenen Gesellschaft. Denn sie ist die einzige, die es Menschen gestattet, mit all ihren Vielschichtigkeiten und Widersprüchen zu leben. Dies bedeutet, allen Feinden der Komplexität entgegenzutreten. Dazu gehören diejenigen, die nicht willens sind, die Verantwortung für ihre Lebenskämpfe in erster Linie selbst zu übernehmen, weil sie ihnen als Zumutung erscheinen. Dazu gehören diejenigen, die Komplexität mit Beliebigkeit verwechseln und den muslimischen Frauenschinder für einen ebenso wertvollen Charakter halten wie die junge Muslima, die ihre Emanzipationskämpfe mit ebendiesem austragen muss. Dazu gehören biologistische und religiöse Dogmatiker, die uns einreden, dass wir im Leben ohnehin keine Wahlmöglichkeiten hätten. Dazu gehören die Apokalyptiker, die an unserer offenen Lebensform kein gutes Haar lassen und uns die Umkehr zu vormodernen Lebenseinstellungen predigen.
Der Streitsüchtige und der Harmoniesüchtige leiden unter demselben Defizit: Sie wissen nicht, wer sie sind. Sie können sich selbst nicht leiden. So wie der hässliche Deutsche sein hohles Ego aufblähte, indem er überall »Parasiten« witterte und sich aufmachte, diese zu vernichten, hat der gute Deutsche von heute vor seinem hohlen Ego kapituliert und legt sich vorsichtshalber mit überhaupt niemandem mehr an, auch wenn dieser Jemand ihm ins Gesicht sagt, wie sehr er ihn verachtet.
Verehrte Frau Mustermann, ich suche keinen Streit. Ich finde ihn.
In diesem Sinne grüßt berzlich
Ihre Thea Dorn
Das Beta-Tier
Thea Dorn reist in den Busch und sieht bekannte Gesichter .
Schilder warnen vor den Löwen. »Waarskuwing! Leeus in die area!« Der freundliche Wildhüter springt vom Jeep, um das schwere Tor zu öffnen, das eher zur Werkseinfahrt von Messerschmidt-Bölkow-Blohm passt als zu einem Tierreservat im südafrikanischen Busch. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, die Berge am Horizont lassen sich lediglich erahnen, Kameldornbäume krümmen sich, als hätten sie in der Nacht bei Quasimodo gelernt. Mein Begleiter und ich sind sehr still, als der Wildhüter den Jeep über die Schwelle rollen lässt. Wir hören das metallische Schnalzen, mit dem sich das Tor hinter uns schließt. Der Anfang von Jurassic Parc III fällt mir ein und des hellsichtigen Paläontologen Prognose, dass es stets mit »aaah!« und »oooh!« beginnt – um stets mit »kreisch!« und »renn!« zu enden. Wir fahren los.
Die Luft ist kühl, außer den Kameldornbäumen und ein paar flachen Schwarzdornbüschen gibt es nichts zu sehen. Die Fauna ziert sich. Ich versuche mich an das zu erinnern, was ich vor Jahren in der logisch-semantischen Propädeutik gelernt habe. War es kein gültiger Umkehrschluss: Wenn etwas nicht mit »aaah!« und »oooh!« beginnt, wird es auch nicht mit »kreisch!« und »renn!« enden? (Hoffnung und Logik sind schlechte Bettgefährten.)
Eine beim Morgenspaziergang aufgeschreckte Warzenschweinfamilie entlockt meinem Begleiter den Anflug eines »Aaah!« Schnell halte ich ihm den Mund zu.
Nach einer Stunde Fahrt durch ruppiges Buschgelände haben wir eine weitere Warzenschweinfamilie, fünf Giraffen und eine Herde der unvermeidlichen Springböcke gesehen. Von Löwen noch immer keine Spur. Der freundliche Wildhüter scheint zu befürchten, wir wären enttäuscht, und beginnt zu erzählen: Achtzehn Löwen gäbe es im Reservat. Fünf männliche, dreizehn weibliche. Sieben der Tiere seien Jungtiere, in den letzten zwölf Monaten hier im Reservat geboren.
»Gab’s schon mal Ärger?«, will ich wissen.
»Ärger?« Der Wildhüter lacht, während er den Jeep einhändig über einen Schwarzdornbusch hinwegrumpeln lässt. »Nicht wirklich. Nur einmal, als wir den Beta-Löwen frisch ins Reservat geholt hatten, da war die Hölle
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