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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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welche Mittel einzusetzen wir bereit sind, um den Forderungen der Aufklärung Nachdruck zu verleihen. Viele von uns sind ebensolche Verehrer wie Meister des Wortgefechts. Doch keiner von uns hat die Hoffnung, Worte könnten in jeder Situation die ausreichende Waffe sein. Oder, wie es unser oberstes Alpha-Tier, Ayaan Hirsi Ali, beschreibt: »Es gibt die pazifistische Ideologie, dass Gewalt niemals und unter keinen Umständen angewandt werden darf. Deshalb sollen wir reden und reden und reden. Selbst wenn dein Gegner sagt: >Ich will nicht mit dir reden, ich will dich vernichten<, ist die Reaktion: >Dann lass uns bitte über die Tatsache reden, dass du mich vernichten willst.<«
    Ja, unter Umständen rufen wir Fundamentalisten der Aufklärung also durchaus dazu auf, Gewalt einzusetzen. Nämlich genau dann, wenn die gegnerische Seite den Boden des Diskurses längst verlassen hat und sich tief im Feld der Gewalt befindet. Aber keine Angst: Auch wenn wir für das Kopftuchverbot an öffentlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sind – keiner von uns will Köpfe rollen sehen. Robespierre gehört nicht in unseren Stammbaum, und keiner von uns hat eine Guillotine im Garten stehen.
    Ich denke, damit bin ich an dem Punkt angekommen, an dem ich Ihnen den versprochenen Blick auf den Grund unseres Fühlen und Denkens gewähren kann: Wir sehen, dass Europa auf dem besten Weg ist, sich abermals in einen Schlamassel hineinzumanövrieren, in dem die mühsam errichteten Deiche der Zivilisation aufs Neue brechen können. Und wir sind überzeugt, dass es nur einen Weg gibt, dies zu verhindern: Indem wir unmissverständlich und unnachgiebig für die Werte der Aufklärung einstehen und die Einhaltung dieser Werte von allen, die auf dem europäischen Kontinent leben, einfordern. Meinetwegen mag man das »fundamentalistisch« nennen. Aber dann dürfen wir jeden, dem die Aufklärung tatsächlich am Herzen liegt und nicht Ängstlichkeit den Blick trübt, als Mitglied unserer Spezies begrüßen.
    Zum Schluss lohnt es sich, noch ein paar Worte über unsere geografische Verbreitung zu verlieren. Es gibt nämlich Gerüchte, dass wir in Europa eigentlich nicht (mehr) heimisch seien. So erläuterte Ian Buruma anlässlich des Kontinentwechsels unseres Alpha-Tiers in einem New Yorker Radiointerview: »Ich denke, Ayaan Hirsi Ali gehört nach Amerika. Auch von ihrer Persönlichkeit her. Sie ist ganz klar der Typ, der sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht, der sich auf die eigenen Talente und die eigene Kraft verlässt. Und sie erinnert mich ein bisschen an Margaret Thatcher in dem Sinn, dass beide nur eine sehr eingeschränkte Toleranz für Leute aufbringen, die unter ähnlichen Umständen nicht die Gelegenheit oder die Intelligenz oder die Kraft haben, es selbst zu schaffen.«
    MargaretThatcher: Eine heimliche Amerikanerin? Doch abgesehen davon – so redet der liberal-paternalistische Hirte, angetrieben von der Sorge, seine schwachen Schäfchen durch die »Last der Zivilisation« zu überfordern. Wird unsere Ayaan deshalb so doppelt misstrauisch beäugt, weil ihre Biografie ein grandioser Beweis dafür ist, dass aus einem kleinen somalischen Mädchen, für das die Gemeinschaft eine Karriere als vollverschleierte Söhnefabrik vorgesehen hatte, ein stolzes, mutiges, höchst eigenwilliges Individuum werden kann? Und überführt sie also weniger durch ihre Reden, als vielmehr durch ihr gesamtes Leben all diejenigen der Kleinmütigkeit, die das Individuum permanent vor den Frösten der Freiheit schützen wollen? Sicher, nicht jede(r) hat das Zeug, eine Hirsi Ali zu werden. Doch wem ist geholfen, wenn man allen einredet, es gar nicht erst versuchen zu sollen, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen?
    Vielleicht hat Buruma ja recht, und der Glaube ans Individuum, daran, dass ein Mensch sich entwickeln, an sich arbeiten, Selbstständigkeit lernen kann, ist heute nicht mehr europäisch, sondern amerikanisch. Vielleicht gehören wir Aufklärungs-Fundamentalisten in Europa tatsächlich zu den aussterbenden Arten. Noch gibt es uns.

Lasst Kunstblut fließen!
     
    Thea Dorn plädiert für dreckige Kunst .
     
    Ein Kopf fliegt durch die Luft. Rückenmark spritzt aus Wirbelknochen. Ein Geschoss durchbohrt weiße Zähne, schneidet eine Zungenwurzel ab und tritt im Nacken wieder aus.
    Nein, diese Szenen finden sich nicht in meinem neuesten Roman. Auch nicht im letzten Kettensägenmassaker, dass die Pixelmeister in Hollywood angerichtet haben.

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