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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Gesicht ihres Herrn nur noch hie und da aus alter Gewohnheit suchen. Das weißgraue Haar, von dem die Schwägerin höhnte, es sei implantiert, vermag die kahlen Stellen am Hinterkopf nicht mehr zu bedecken. Doch von seiner Mähne trennt sich der Löwe zuletzt.
    Da sitzt er also. Keine zehn Meter vor mir. Im Schwurgerichtssaal des Landesgerichts St. Pölten. An jenem Katzentisch, an dem Platz zu nehmen die Vorsitzende Richterin ihn aufgefordert hat.
    Wie blickt man auf einen Menschen, der seine eigene Tochter vierundzwanzig Jahre in einem fensterlosen Kellerverließ eingesperrt, dort dreitausendmal vergewaltigt und gemeinsam mit ihr acht Kinder gezeugt hat, von denen eines das trübe Licht des Kellertages nie erblickte, weil es bereits im Mutter-Tochter-Leib starb; eines kurz nach der Geburt zu atmen aufhörte; drei »im Licht« aufwachsen durften – ohne zu ahnen, dass ihr Großvater gleichzeitig ihr Vater ist – und drei bis zum Tag ihrer Befreiung im unterirdischen Großvaterreich vegetieren mussten? Wie beschreibt man einen Mann, der den Keller seines eigenen Hauses zur Tabuzone erklärt hat, um dort nicht nur ungestört Inzucht zu treiben, sondern mit seiner Tochter, seinem eigen Fleisch und Blut, eine regelrechte In-Zucht anzulegen?
    Vom 29. August 1984 bis zum 26. April 2008 währte die obszöne Unterwelt, die Josef Fritzl sich erschaffen hatte. 8642 Tage. Das Hirn stößt sich wund beim Versuch zu ermessen, was diese Zahl wirklich bedeutet.
    Zu Beginn des Prozesses hatte die Staatsanwältin die Geschworenen angefleht, sich auszumalen, was es heißt, eine solche Ewigkeit in einem Loch zu verbringen, das an den höchsten Stellen gerade mal 1,74 Meter misst, das von Schimmel und Modergeruch durchdrungen ist und phasenweise in totaler Dunkelheit liegt. Die Staatsanwältin hat Gegenstände aus dem Keller mitgebracht, an denen die Geschworenen riechen sollten, sie hat die 1,74 Meter an der hohen Gerichtstür mit Klebeband markiert, um den Geschworenen die Einfühlung zu erleichtern. Obwohl die Maßnahmen höchst effektvoll waren, bin ich sicher: Die menschliche Einbildungskraft versagt. Der Versuch, die 8642 Tage im Keller zu ermessen, ist so vergeblich wie der Versuch, sich die Unendlichkeit des Weltalls vorzustellen.
    Weil es dem Menschen aber eigen ist, dass er das Unfassbare irgendwie doch fassen will, starrte die ganze Welt im vergangenen Jahr nach Amstetten, den Ort des monströsen Abgrunds. So wie sie in dieser Woche nach St. Pölten starrte, den Ort, an dem die menschliche Gerechtigkeit die Oberhand über den monströsen Abgrund gewinnen sollte.
    »Ich seh’ nichts, ich seh’ nichts. O, man müsst’s sehen: man müsst’s greifen können mit Fäusten,« stöhnt Woyzeck in Georg Büchners gleichnamigem Theaterstück. An diese Sätze dachte ich, als ich in jenem Schwurgerichtssaal saß, im selben Raum mit Josef Fritzl.
    Nein. Man sieht nichts. Man kann’s nicht mit Fäusten greifen.
    Und dennoch. Die Staatsanwältin warnte am ersten Prozesstag die Geschworenen, sich von der Fassade des »netten alten Herrn von nebenan« nicht täuschen zu lassen. Eine österreichische Zeitung meinte, im Gerichtssaal ein »Armutschkerl«, eine bedauernswerte Jammergestalt, gesehen zu haben. Ganz so harmlos erschien mir der Nacken nicht, auf den ich blickte, sobald Fritzl an seinem Katzentisch Platz nahm. Noch weniger das Profil, das er zeigte, solange er von Justizwachen gerahmt auf der Anklagebank saß.
    Am Dienstagnachmittag soll Fritzl erschüttert gewesen sein, nachdem er sich – unter Ausschluss der Öffentlichkeit, unter den Augen seiner Richter – per Video hatte anschauen und -hören müssen, wie seine Tochter ihre Zeit in der Vaterhölle beschrieb. Als er entdeckte, dass plötzlich sie selbst in einer der leeren Zuschauerreihen im Gerichtssaal saß, soll er zusammengebrochen sein. Von dieser Erschütterung, diesem Zusammenbruch war am Donnerstag, dem Tag des Urteils, nichts mehr zu spüren.
    Der dort auf der Anklagebank sitzt, mag eingeschüchtert, gebrochen sein. Der alte Despot blitzt immer noch durch. Am ersten Prozesstag hatte er den Blick kein einziges Mal gehoben, kein einziges Mal in Richtung der Staatsanwältin geblickt, als diese die Anklage gegen ihn vortrug. Am letzten Prozesstag, als die Staatsanwältin in ihrem abschließenden Plädoyer noch einmal die Liste seiner Taten entrollt, ihn noch einmal mit Nachdruck des Mordes an seinem Inzest-Zwillingssohn Michael beschuldigt, weil er dessen Tod

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