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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Bierdosensammler, Höschenfetischisten oder sonstigen Schrullenpfleger. Eine Gesellschaft muss sich gegen diejenigen, die im wirklichen Leben Hass und Gewalt verbreiten, zur Wehr setzen. Alles andere bedeutet Kapitulation. Dieses »Sich-Zur-Wehr-Setzen« schießt jedoch übers Ziel hinaus, wenn es glaubt, die Abgründe des Menschen zuschütten zu können, wie der Zahnarzt einen hohlen Zahn füllt.
    Eine Möglichkeit ist es, an jeder Straßenecke einen Sandsack aufzustellen, an dem sich das explodierende Gemüt abreagieren mag. Eckkneipen und Fußballstadien leisten ebenfalls wertvolle Dienste. Noch besser wäre es, wenn wir Abendländer uns darauf besinnen würden, dass die Kunst von Anbeginn an unser nobelstes Ventil war, den Druck im Zivilisationskessel zu regulieren. Denn es macht einen Unterschied, ob die Wut auf ein rundes Stück Leder eintritt – oder auf dreigliedrigen Versfüßen daherkommt. Und mag der nostalgisch gestimmte Bildungsbürger auch seufzen, dass die schönen Tage, in denen sich die Wut noch daktylische Zügel angelegt hat, lange vorbei sind – selbst der schlichteste Gangsta Rapper hat in dem Moment, in dem er darüber nachdenken muss, ob er »Fotze« lieber auf »Kotze« oder »Rotze« reimen soll, bereits den Königsweg der Sublimierung beschritten.
    Natürlich ist die Frage berechtigt, ob es dem Rapper gelingt, seine Klientel auf diesen Königsweg mitzunehmen, oder ob sie seine Texte als reale Handlungsaufforderungen missversteht. Die Fähigkeit, Kunst ästhetisch wahrzunehmen, setzt ein Minimum an ästhetischer Bildung voraus – um die es allerdings auch beim vermeintlich bildungsnahen Publikum nicht immer zum Besten bestellt ist. (Welcher Autor, der einen literarischen Text in der Ich-Form präsentiert, sah sich bei Lesungen noch nicht mit der Frage konfrontiert, ob ihm das Erzählte auch tatsächlich passiert sei?)
    Selbstbewusste Kunst will ästhetisch wahrgenommen werden – in ihrem eigenen abgeschirmten Reich des »Alsob«, in dem die Masken der Zivilisation fallen dürfen, weil die Masken der Kunst aufgesetzt wurden. Darin ist sie dem Karneval nicht unähnlich. Kunst, die zur unmittelbaren Nachahmung in der Wirklichkeit animiert, hat die Schwelle zur Pornografie überschritten.
    Noch nie ist es der Kunst allein gelungen, das Abgleiten einer Gesellschaft in die Barbarei zu verhindern – allerdings stellt dies auch keine Forderung dar, sondern eine Überforderung. Die brachialen bis endzeitseligen Klänge von Liszt und Wagner mögen den kongenialen Soundtrack zu Stalingrad geboten haben – dennoch ist es hilfreich, sich hin und wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass nicht jene beiden Komponisten versucht haben, die Welt in den Orkus zu stoßen, sondern ein ebenso talent- wie erfolgloser Maler, der als junger Mann keine blutberauschten Völkermordgemälde auf die Leinwand brachte, sondern süßlichen Landschaftskitsch.
    Trotz aller gegenteiligen Hysterien sind die heutigen demokratischen Gesellschaften in ihrem Alltag mit so wenig physischer, elementarer Gewalt konfrontiert wie nie zuvor, und – um das abgedroschene Zitat zu bemühen – das ist auch gut so. Gerade deshalb dürfen wir nicht dem Trugschluss aufsitzen, wir hätten endlich im Grandhotel »Zum ewigen Frieden« eingecheckt – das sich bei näherem Hinsehen allerdings als straff geführtes Landschulheim entlarvt.
    Jede Zivilisation braucht Rituale, in denen sie dem Verdrängten, Ausgeschlossenen sein Recht einräumt. Den Menschen der Antike war bewusst, dass sie auch die unterirdischen Gottheiten zu fürchten u nd zu ehren hatten. Einer reifen, erwachsenen Gesellschaft muss der Blick auf das, was unter dem dünnen Lack der Zivilisation verborgen liegt, zugemutet werden können. Der Satz: »Es gibt so viel Schreckliches auf der Welt – da braucht doch nicht auch noch die Kunst von Schrecklichem zu handeln«, ist infantil.
    Der schwarze Mann verschwindet nicht, nur weil ich mir die Augen zuhalte.

Vier Stunden mit Fritzl
     
    Thea Dorn macht einen Ausflug nach Niederösterreich.
     
    Zwei robuste dunkelgraue Schnürstiefel, ordentlich aufgestellt, rechts und links von hölzernen Stuhlbeinen gerahmt. Die Hosenbeine darüber sind ein Spur zu akkurat gebügelt, zu elegant, um auf solche Stiefel zu stoßen. Ein grau-blau-kleinkariertes Jackett drückt sich gegen die hölzerne Stuhllehne, die Schultern um Haltung bemüht. Zwei altersfleckige Hände ragen aus den Ärmeln, liegen wie halb tote Reptilien auf dem Tisch, die das

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