Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Sondern in der Ilias. Jenem Werk, mit dem das abendländische Erzählen seinen Anfang nahm.
Standen auch damals, als Homer über die Marktplätze zog, um sein Epos vorzutragen – gehen wir für den Moment einmal davon aus, dass der blinde Dichter tatsächlich der erste Lesereisende unserer Kultur war -, standen auch damals schon die Zartbesaiteten auf, um ihn zu fragen, warum er sie mit solch einem gewalttätigen Werk belästigen müsse? Mute einem die Wirklichkeit nicht schon genügend Grausamkeiten zu?
Die Überlieferung schweigt zu diesem Punkt, dennoch dürfen wir annehmen, dass die am Jugendschutz orientierte Empfindlichkeit in Sachen Kunst kein Kind der Früh-, sondern der Spätzivilisation ist. Zwar wollte der mächtigste Kopf der griechischen Antike, Platon, die Künstler aus seinem (totalitären) Staat allesamt hinausgeworfen sehen. Der zweitmächtigste (und deutlich ruhigere) Kopf, Aristoteles, erkannte jedoch, dass gerade die Kunst, die den Zuschauer »Schaudererregendem« und »Jammervollem« aussetzt, eine hohe zivilisatorische Funktion übernimmt. »Kathartisch« wird die Kunst, wenn sie dem Menschen einen Raum öffnet, in dem er all die düsteren, extremen Affekte ungestraft ausleben kann, die er im zivilisatorischen Alltag eindämmen und verdrängen muss.
Nun sind die Gutmeinenden und Nochbesserwissenden unserer Tage schnell dabei, die Katharsistheorie mit derselben Geste wegzuwischen, mit der man Aristoteles’ gewagte These, der Bison verteidige sich, indem er seinen Kot um sich schleudere, wegwischen mag. Ihr Credo: »Gewaltverherrlichende« Kunst führe nicht dazu, den Menschen mit den Einschränkungen der Zivilisation zu versöhnen, sondern befördere im Gegenteil die allgemeine Verrohung.
Der Vater des deutschen Missverständnisses in Sachen Katharsis ist Lessing. Humanistisch macht er kurzerhand aus dem aristotelischen »Phobos« (Schaudern, Schrecken) und » Eleos« (Jammern, Klagen) sein sprichwörtlich gewordenes »Furcht und Mitleid«. Die kathartische Funktion von Kunst, die man schlicht als »Reinigung des Gefühlshaushalts« oder Trieb- bzw. Aggressionsabfuhr beschreiben kann, wird zum Prozess, aus dem der Mensch geläutert und veredelt hervorzugehen habe. Also keine über die Bühne fliegenden Köpfe mehr, die Schrecken verbreiten und den Zuschauer vor Angst (oder Lust?!) schreien lassen, sondern die Schaubühne als eine moralische Waschanlage – zu der sie endgültig Schiller machen wollte -, auf der das Schreckliche nur noch geduldet wird, wenn es den Zuschauer dazu bringt, mit den Gestalten, denen das Schreckliche widerfährt, mitzuleiden.
Gern mag man an dieser Stelle einwenden: Was haben Sie gegen Kunst, die dem Menschen bewusst macht, dass auch er ein leidendes, verletzliches Wesen ist? Die Antwort lautet: Nichts. Das Problem beginnt dort, wo der Kunst ausgeredet werden soll, dem Menschen bewusst zu machen, dass er ebenfalls ein Leid zufügendes, verletzendes Wesen ist. Wer es begrüßt, wenn der Dichter/Filmemacher das Schweigen der Lämmer zu Gehör bringt, darf nicht verlangen, dass Hannibal Lecter schweigt.
Die Utopie hinter diesen Weichspülungen entspringt der christlich-humanistischen Hoffnung, der Mensch könne eines Tages doch noch zu jenem engelsgleichen Wesen erzogen werden, dem alles »Unmenschliche« fremd geworden ist. Kein ungerechter Zorn mehr, wie Achilles ihn empfand; kein maßloser Hass mehr, wie er in Klytämnestra tobte; keine Mordlust mehr, wie Medea sie den schockierten Zuschauern entgegenschreit. Betrachten wir die Geschichte des Abendlands – die wir trotz aller Rückfälle in die Barbarei als eine fortschreitende Zivilisationsgeschichte lesen sollten -, müssen wir zu der nüchternen Erkenntnis kommen: Wir werden den Dreck nicht los. Da können wir noch so viele Pestalozzikindergärten und Waldorfschulen gründen, noch so viele »Nimm-Rücksicht-Nachbar!«-Kampagnen starten, noch so viele Therapeuten und Sozialarbeiter durchs Land schicken: Neid, Hass, Wut, voyeuristische, sadistische, destruktive Triebe werden Teil der menschlichen Psyche bleiben.
Nun sollte sich eine Gesellschaft jedoch davor hüten, den Zivilisationsgedanken mit dem christlich-humanistischen Bade auszukippen. Anders als manch französisch inspirierter Psychoanalytiker oder Kulturwissenschaftler meint, kann es auch kein Weg sein, diese Negativkräfte einfach zum Zivilisationsbestandteil zu erklären und damit den Verbrecher und den Mörder auf dieselbe Stufe zu stellen wie den
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