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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Selbsterkenntnis, und sich stattdessen in orgiastischer Weise mit dem Mann Amfortas, mit der Brüderschaft identifiziert, die lange schon erkannt hat, dass alles Verderben vom Weibe ausgeht. Wagner hat seine Weltformel entdeckt, lässt seinen Parsifal zum Anti-Faust werden. Kulminiert Faust II in der Verkündigung, es sei das Ewig-Weibliche, das uns hinanziehe, so hat Parsifal seinen Höhepunkt in der Erkenntnis, dass es das Ewig-Weibliche ist, das uns binabzieht. Bei Goethe: Die Überhöhung des Weiblichen, der Liebe, zum mystischen Weltenmotor. Bei Wagner: Die Reduzierung des Weiblichen, der Liebe aufs nackte Triebleben, die Entlarvung des Trieblebens als Unheil schlechthin.
    Nun wissen wir nicht erst seit Wagner, dass Männer ein paradoxeres Verhältnis zur Sexualität haben, als sie uns gemeinhin glauben machen wollen. Dass sie zwar überall Sex wittern, Sex wollen, aber gleichzeitig eine Höllenangst haben, vom weiblichen Abgrund verschlungen zu werden. Der Sexualakt ist der Männlichkeitsbeweis schlechthin. Und ist doch gleichzeitig der Moment, in dem sich der Mann – zumindest in der heterosexuellen Variante – am weitesten von sich selbst entfernt, die größte Gefahr läuft, sich in etwas zu verlieren, dass so ganz anders ist als er selbst.
    Von Thomas Mann stammt die hübsche Beobachtung, dass es sich bei Kundry mit ihrem Schwanken zwischen kataleptischen Zuständen und Anfällen von Sexualwut um den Paradefall einer wagnerschen Edelhysterikerin handele. Wahrscheinlich war Thomas Mann aber selbst zu sehr Mann, um zu erkennen, dass auch in Parsifal ein Hysteriker ersten Grades steckt. Die paranoide Angst, durch die Frau beschmutzt zu werden; die groteske Überidentifikation mit einem anderen Mann; die plötzliche Entdeckung des eigenen Heilsauftrags, der aus dem eben noch Schwachen den starken Helden machen soll – all dies sind klassische Symptome des männlichen Hysterikers. Des Mannes, der sich der eigenen Männlichkeit so unsicher ist, dass er vorsichtshalber den Supermann spielt.
    Crazy, der 1999 erschienene, stark autobiografische und sensationell erfolgreiche Roman des damals sechzehnjährigen Benjamin Lebert, beschreibt den Schock einer männlichen Entjungferung in unseren Tagen. Eine sexuell erfahrene Internatsmitschülerin lockt den Haupthelden Benny ins Mädchenklo. O-Ton Crazy : »Irgendetwas will sie von mir. Das weiß ich. Sie kommt auf mich zu. Ich habe Angst.« Und nach vollzogenem Akt – die frühreife Verführerin hat längst das Weite gesucht und Benny auf dem Mädchenklo sitzen lassen – heißt es: »Wie lauten doch gleich die Sprüche mit dem ersten Mal? Nach dem ersten Mal wäre man ein Mann? Da stehe man auf eigenen Füßen? Vorbei sei es mit der milden Jugend? Man wäre nun erwachsen? Hm? Mein erstes Mal ist nun vorbei. Und ich fühle mich noch immer wie ein kleiner Hosenscheißer. Das ist, glaube ich, auch ganz gut so. Ich will gar nicht erwachsen werden. Ich will ein ganz normaler Junge bleiben. Meinen Spaß haben. Mich, wenn nötig, bei meinen Eltern verstecken. Und das soll jetzt alles vorbei sein?«
    Der erste Geschlechtsverkehr stürzt den pubertierenden Helden in eine Identitätskrise, löst heftige Selbstzweifel aus. Der »kleine Hosenscheißer«, der er so gern bleiben würde, versucht die Krise zu überspielen, indem er das von ihm gefüllte Kondom auf den Boden wirft und anschließend absichtlich neben die Kloschüssel pinkelt. Zu guter Letzt muss er sich auch noch übergeben.
    Wie wäre es Parsifal ergangen, hätte er Kundry zur Entjungferung seiner selbst schreiten lassen? Wohl kaum besser. Obwohl Wagner das Motiv des reinen Toren nicht nur bei Eschenbach, sondern vor allem in den deutschen Dümmlingsmärchen vorgefunden hat – Geschichten, in denen ein Taugenichts vom wütenden Vater in die Welt hinausgeschickt wird, wo er dank seiner Torheit Heldenhaftes vollbringt und zur Belohnung die schöne Prinzessin erhält – trotz dieses Erbes ist unvorstellbar, dass Parsifal Kundry glücklich heimführen könnte. Parsifals Belohnung am Schluss des Bühnenweihfestspiels wird gerade nicht die schöne Prinzessin sein, sondern die Übernahme von Amfortas’ Amt, die Führerschaft über die Ritter. Der Gralskult, die Gemeinschaft mit den Brüdern besetzt exakt jene Stelle, an der im Märchen das erfüllte Sexualleben, der Wandel vom Knaben zum reifen Mann steht. Doch dafür ist in Wagners Welt die Angst vorm Weib zu groß. Sitzt das Misstrauen gegen die Vereinigung von Mann

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