Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
vorsätzlich und wissentlich in Kauf genommen habe, und als Strafe »lebenslänglich« fordert, sieht Fritzl immer wieder zu ihr hinüber. Seine Blicke lassen ahnen, was er mit der zierlichen 33-Jährigen in der schwarz-roten Robe tun würde, würde sie ihm nicht in einem streng bewachten Gerichtssaal, sondern allein in einem Keller begegnen.
Der moderne Rechtsstaat funktioniert nach papiertrocken formulierten Gesetzen und Paragrafen. Seine Rituale sind nüchtern, vor Gericht regiert die abwägende Vernunft, ganz gleich, wie unfassbar die Taten sind, die zu be- und verurteilen sind. So war es auch beim »Jahrhundertprozess« in St. Pölten. Und es ist gut, dass es so war. Gibt der Rechtsstaat auch nur eine Sekunde Rachefantasien wie derjenigen nach, die Fritzls Verteidiger per E-Mail zugeschickt wurde und die er am Donnerstag im Gerichtssaal vorlas (»Dreckschwanz abschneiden, ins Maul stopfen, Arme und Beine abschneiden, halb tot treten und in das Verließ werfen, in das er seine Tochter eingesperrt hat«), ist er selbst auf dem Weg in Fritzl’sche Barbarei. Wer seine archaischen Vergeltungsgelüste stillen will, mag in den antiken Sagen und Mythen lesen. Dort werden Übeltäter gesteinigt, zerschnitten und anderen Höllenqualen ausgesetzt. Unsere heutige, zivilisierte Wirklichkeit beruht darauf, dass solche Gelüste auch denen gegenüber unterdrückt werden, die ihre barbarischen Triebe selbst nicht unterdrücken können.
Und dennoch wehte trotz aller rechtsstaatlichen Nüchternheit in jenen Tagen in St. Pölten ein Hauch von höherer Gerechtigkeit durch den Saal, die sich nicht in Urteilsspruch und Strafmaß ausdrücken lässt: Ich werde den Verdacht nicht los, dass die eigentliche Höchststrafe für Fritzl nicht darin besteht, dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Rest seines Lebens in einer »Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher« verbringen wird, sondern darin, dass er vier Tage lang vor vier Frauen kuschen musste, zum Teil unter den Augen der Medien, und noch schlimmer: An einem Tag sogar unter den Augen seiner von ihm versklavten Tochter.
Dr. Andrea Humer, die Vorsitzende Richterin, schickte Fritzl von der Anklagebank zum kleinen Einzeltisch und wieder zurück. Christiane Burkheiser, die Staatsanwältin, las ihm die Leviten. Dr. Adelheid Kastner, die forensischpsychiatrische Gutachterin, erklärte, warum der kleine Josef zu dem wurde, was er geworden ist. Und Eva Plaz, die Opferanwältin, meldete sich ganz zum Schluss überraschend auch noch zu Wort, um mit leiser Stimme die Botschaft der Tochter vorzutragen, man möge den Vater des Mordes schuldig sprechen, und die Geschworenen zu ermahnen: »Glauben Sie dem Angeklagten auch weiterhin kein Wort.«
Vier Frauen haben das »Inzest-Monster« als greisen, bösen Schulbuben vorgeführt. Starke, im Leben erfolgreiche Frauen, wie Elisabeth Fritzl eine hätte werden können, hätte ihr Vater nicht vor über fünfundzwanzig Jahren ebendies gefürchtet und sie deshalb in sein morbides Reich gezwungen. Frauen, wie sie in den Albträumen des Josef Fritzl wohl aussehen.
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