Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
und sie für immer in die Kammer schickt.
Bei Maeterlinck geht Arianes Rechnung auf, dass Blaubart zurückkehren und der Schönheit der Frauen nicht wird widerstehen können. Allerdings gelingt es den Bauern, Blaubart anzugreifen, bevor dieser sich in seinem Schloss in Sicherheit bringen kann. Zum zweiten Mal ist es Ariane, die ihn aus der Not rettet: Wie ein Beutetier legen die Bauern ihr den verwundeten, gefesselten Blaubart vor die Füße. Die anderen -verängstigten – Frauen warnen Ariane, Blaubart zu befreien, doch diese weiß, dass von Blaubart nichts mehr zu befürchten ist: Freiwillig hat er sich den blauen Bart abrasiert. Und so schneidet Ariane die Stricke durch und gibt dem Gezähmten einen letzten Kuss. Als die anderen Frauen sehen, dass Blaubart tatsächlich der Stachel gezogen zu sein scheint, trauen sie sich an ihn heran. Und beginnen sogleich, ihn krankenschwesterlich zu umsorgen. Ariane fragt die »Schwestern« eine nach der anderen, ob sie das Schloss nicht gemeinsam mit ihr verlassen wollen. Und eine nach der anderen gesteht verdruckst, dass sie doch lieber bei Blaubart bleiben würde. Also zieht Ariane 一 mit ihrer Amme – allein davon.
Bei Maeterlinck erleben wir die einzige Frau, die aus eigener Kraft die Begegnung mit Blaubart überlebt. Allerdings scheitert auch sie mit ihrer Hoffnung, in diesem Blaubart einen ebenbürtigen Gegner zu finden. Im Angesicht ihrer Stärke erweist sich Blaubart als Schwächling. Der Schluss, dass er mit sieben gluckenden Frauen zurückbleiben muss, während die Einzige, die ihm je Paroli bieten konnte, sich enttäuscht von ihm abwendet – dieser Schluss ist bitterer als alle Bestrafungen, die Blaubart in seinen sonstigen Inkarnationen erfahren musste. Der düster umflorte homme maudit hat seine Magie verloren.
Nicht nur Arianes Reise in Blaubarts Reich, auch die kleine Kulturgeschichte des Geschlechterscheiterns kommt zu ihrem Ende. Die Burg wird nicht zu Staub zerfallen, nur weil eine gezeigt hat, dass gegen den schrecklichen Mann doch ein Kraut gewachsen ist: Die unerschrockene Frau.
Denn noch immer meinen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, die durch männlichen Übermut ins Wanken gebrachte Welt sei durch weibliche Demut wieder ins Lot zu bringen. Noch immer glauben Frauen, die zu schwach sind, sich selbst zu tragen, sie könnten den Mann aus seinem Abgrund hinaufziehen. Noch immer gelingt es den Geschlechtern nicht, einander zu erschüttern, ohne sich in Schutt und Asche zu legen. Noch immer bürden wir der Liebe alle Hoffnungen auf, die der Glaube nicht mehr zu erfüllen vermag.
So wird auch Ariane weiterziehen. Und wenn sie nicht gestorben ist, klopft sie noch immer an Burgtor nach Burgtor nach Burgtor...
Seichtgebiete
Thea Dorn hat genug vom Bullshit auf der Agora.
Was ist der Unterschied zwischen Josef Fritzl und Charlotte Roche?
Im Fall Fritzl schlummerte hinter der Fassade der Biederkeit der Tabubruch.
Im Fall Roche schlummert hinter der Fassade des Tabubruchs die Biederkeit.
Der Unterschied ist interessant, weil er verrät, welchen Charakter der tatsächliche und der vermeintliche Tabubruch in einer offenen Gesellschaft jeweils hat. Und weil er zeigt, auf welch kümmerlichem Niveau der in provokativer Absicht inszenierte Tabubruch unserer Tage angekommen ist.
Die Tabuzone ist der archaische Kern einer jeden Gesellschaft. Wer sie betritt, wird von der Gemeinschaft gnadenlos verstoßen. Der überführte Tabubrecher rekelt sich nicht mehr auf Talkshowsofas. Er muss sogar im Knast befürchten, gelyncht zu werden.
Für die vormodernen, religiös dominierten Gemeinschaf ten bestand die Welt zum überwiegenden Teil aus Tabuzonen. Aufrechte, intelligente Tabubrecher von Sokrates über Galilei bis Nietzsche haben ihren Kopf dafür hingehalten, Tabus infrage zu stellen. Dieser Prozess nannte sich Auf klärung und führte dazu, dass in offenen Gesellschaften die Tabuzonen so abgeschmolzen sind wie die Alpengletscher. Geblieben ist ein Restbestand an archaischen Tabus wie Inzest, Sterben, Tod – und seit 1945: Der Holocaust. Jeder Provokateur, der diese Themen herausfordert, begibt sich auf dünnstes Eis. Das meiste, was heute unter dem Label »Tabubruch« verkauft wird, beschränkt sich jedoch aufs Epater les bourgeoises , jenes Spiel mit den Tabus zweiter Klasse, die die bürgerliche Gesellschaft zu ihrem Selbstschutz errichtet hat. Mit reger Plastikaxt zerlegt der »linke« Bürgerschreck die letzten Sessel, die vom konservativen
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