Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Minimum vertreten hat, tatsächlich ernst meint. Um eine inhaltliche Konfrontation mit der weltanschaulichen Opponentin kann es ihm jedenfalls nicht gegangen sein 一 das beweist ein langes Gespräch, das er im Juli 2006 mit Alice Schwarzer geführt hat und in dem beide aneinander vorbeireden, um sich auf den schmalen Konsens zu einigen, dass der Islamismus eine Bedrohung für den Westen darstellt.
Hat Alice Schwarzer, als sie erfuhr, dass Harald Schmidt ihr den Börnepreis 2008 verleihen will, ein Mann, der keine sexistische Zote auslässt, selbst wenn er dafür wie der Billigsprittanker drei Kilometer Umweg fahren muss – hat sie sich da wenigstens eine Sekunde lang gefragt, ob sie in dieser Posse mitspielen soll?
Und warum hat Harald Schmidt seine Macht als alleiniger Juror dazu genutzt, ausgerechnet Alice Schwarzer zu ehren? Um endlich einmal in der Paulskirche sprechen zu dürfen – wie er im ersten Satz seiner Laudatio erklärt? Aber warum hat er den Preis dann nicht an Oliver Kahn verliehen? Oder an Michaela Schaffrath? Aus Angst, die gehobene Gesellschaft würde eine solche Provokation als Tabubruch empfinden und dem Parvenü ihre heiligen Hallen wieder verschließen? Als Feigling hatte sich »Dirty Harry« ja bereits anlässlich des Karikaturenstreits und der Ermordung Theo van Goghs geoutet, indem er mit aasigem Lächeln versicherte, niemals eine Person oder Gruppe zu provozieren, bei der die Gefahr bestünde, sie könnte ihm die Kehle durchschneiden.
Wir sollten dem Schicksal dreimal täglich danken, dass es uns einen Staat beschert hat, in dem jene Wahrheiten, die das zivile Miteinander garantieren, mehr oder minder vollständig in der Verfassung festgeschrieben sind und von entsprechenden Institutionen geschützt werden, so dass es einstweilen keines Mutes bedarf, sie auszusprechen. Allerdings ist fraglich, wie lange dieser selige Zustand währen kann, wenn wir zulassen, dass unsere Agora zum Ego-Stadl verkommt.
Schämt euch!
Thea Dorn schaltet den Fernseher ein und errötet.
Es gab eine Zeit, da schämte ich mich, wenn ich mich schämte. Vormittags im Gymnasium schämte ich mich, weil ich die Frage nach der französischen Nationalhymne ebenso vorlaut wie -schnell mit »Bouillabaisse« beantwortet hatte. Ins hämische Gelächter der gebildeteren Mitschüler stammelte ich hinein, dass meine Eltern jene Fischsuppe in Marseille gegessen hätten, ich doch immerhin auf der richtigen Fährte gewesen sei. Die Röte ließ sich mit dem flauen Versuch der Selbstrechtfertigung nicht aus dem Gesicht vertreiben. Abends zu Hause schämte ich mich, dass ich meinen Lapsus nicht »cooler« genommen hatte.
Meine Mutter schätzte die Lage anders ein. Sie hielt es für diskussionslos beschämend, dass sich ihre Tochter im Französischunterricht durch einen dermaßen blöden Fehler hervorgetan hatte. Wie gern hätte ich damals »entspannte« Eltern gehabt, die mich »aufgebaut« hätten, indem sie stolz darauf gewesen wären, dass sich ihre Tochter überhaupt im Unterricht meldet, »Bouillabaisse« hin oder her. Wie oft möchte ich heute selbst »Schäm dich!« rufen, wenn in einer der zahllosen Ratesendungen der Kandidat vermutet, dass Ödön von Horváth (»nie gehört«) ein türkischer Schriftsteller sein müsse, und es sich bei dem gesuchten Theaterstück deshalb wohl am ehesten um die »Geschichten aus dem Häagen-Dazs« handeln werde. (»Nö, den Laden kenn ich eigentlich auch nicht – Döner?«)
Scham ist die Kraft, die den Menschen in seinem Selbstdarstellungs- und Selbstentblößungsdrang hemmt. Als Mich-Schämende spüre ich selbst und zeige ich anderen, dass es Normen gibt, deren Anspruch ich mich nicht entziehen kann. Das macht die Scham zur Schwester des schlechten Gewissens, nur dass sie uns noch umfassender regieren will als jenes: Mein Gewissen plagt mich 一 so ich denn eins ausgebildet habe -, wenn ich moralisch versagt, ein anderes Wesen belogen, betrogen, verletzt habe. Es regt sich, um mir zu sagen: Du bist ein schlechter Mensch. Scham hingegen will mich befallen, ganz gleich an welcher der zahlreichen Fronten ich versage, die bewundernswertes Menschsein ausmachen. Sie schilt mich: Du bist ein dummer, dreister, engstirniger, geschmackloser, hässlicher, feiger, lächerlicher Mensch. Kann das selbstherrliche Individuum der Neuzeit gerade noch akzeptieren, dass es sich und die anderen der Macht des Gewissens unterwerfen sollte, damit nicht Mord und Totschlag herrschen, sträubt es sich
Weitere Kostenlose Bücher