Achilles Verse
kotzen. Brennen überall. Egal, hier fightet der Westen. Opa kommt nicht weg. 30 Meter noch. Brich dir die Beine und fall in den Graben, elender Zausel!
Ein Dutzend Zuschauer feuert den Alten an. Alles elende SED-Mitglieder. Brust an Brust jagen wir über die Ziellinie. Foto-Finish, unentschieden. Ich falle ins Laub.
Als ich wieder zu mir komme, steht Gevatter da und reicht mir einen Plastikbecher Tee. Er sagt irgendetwas auf Sächsisch. Ich liebe ihn. Wahre Freundschaft gibt es nur unter Läufern.
Check it
Hart, aber unvermeidlich – eine Formüberprüfung im frühen Frühjahr. Der Läufer neigt ja dazu, sich seine eigene Welt aus gefühlten Daten, Zeiten und Fakten zusammenzuphantasieren. Wie desillusionierend kann da eine unbestechliche Uhr an einer korrekt vermessenen Strecke sein. Wer den Schock über die eigene miese Leistung aber schon im Februar verspürt, hat die Chance bis zum Sommeranfang noch eine Menge aufzuholen. Wer sich allerdings vor einer objektiven Leistungsüberprüfung drückt, der kann in seinen angepeilten Wettbewerben unangenehme Überraschungen erleben. Gerade kleinere Volksläufe eignen sich gut zum Leistungs-Check. Und immer dran denken: Den anderen geht es auch nicht besser.
Die letzten drei Monate vor dem Marathon sind die härtesten. Lange Läufe, schnelle Läufe, viele Läufe. Und der Kopf muss auch noch mitmachen.
Die Sportartikel-Industrie ist ausgesprochen ignorant. Auf Monas Briefe, die mich als ideale Breitensportwerbefläche anpriesen, kam nur eine einzige jämmerliche Absage, auch noch als Formblatt. »Vielen Dank, aber …«, ja, ja, ja. Die anderen reagierten nicht einmal. Ab sofort überklebe ich alle Logos an meiner Wäsche und sage dem arroganten Großkapital den Kampf an: Ich werde eine eigene Marke erfinden. Bei dem Jackenbedrucker meines Vertrauens werde ich einen Prototypen anfertigen lassen. Das Label heißt, Tusch, Fanfare, Trommelwirbel, Achtung, fertig machen zum Ablachen: EPO-OPA. Lustig, oder? Frech, selbstironisch, Absage an den Jugendwahn, mit historischem Augenzwinkern und klarem Bekenntnis zum Drogenkonsum. Für Frauen gibt’s natürlich eine eigene Linie: EMO-OMA. Das Gute an EPO-OPA und EMO-OMA: absolut gratis, kann jeder haben, Marken des Volkes, deutliche Absage an den Labelterror. Einfach irgendwo draufschreiben.
Ich gebe ja zu: alles Schwachsinn. Aber womit soll man sich sonst beschäftigen, wenn man einen Marathon-Trainingsplan zu befolgen versucht und eigentlich nichts anderes mehr tut als zu
laufen? Drei Monate vor dem Marathon wird das Leben des Läufers ziemlich eindimensional. Zuvor sollte man sich daher von seiner Familie, allen Freunden und dem Chef verabschieden.
Marathon ist der sicherste Weg, Beziehung, Knie, Selbstwertgefühl und Karriere zu ruinieren. »Trainieren heißt auch Schmerzen ertragen«, sagt Coach Karraß kühl. Und ich wanke durch die Hölle. Vier Trainingstage und 70 Kilometer sind pro Woche gefordert, die Freaks machen 140 Kilometer an sieben Tagen die Woche.
Mona ist bereits auf die Couch gezogen. Sie kann mein Stöhnen nachts nicht mehr ertragen. Jedes Umdrehen ist reine Qual. Der 35-Kilometer-Lauf vom Samstag steckt mir noch immer in jeder Muskelfaser. An die letzte Stunde kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich war es längst dunkel. Ungefähr nach 20 Kilometern ist mir »EPO-OPA« eingefallen. Nach 25 Kilometern dann Blutleere im Hirn. Jeder Gedanke gedacht. Jedes Gefühl gefühlt. Totale Leere. Läufers Delirium. Wigald Boning ist Dauerläufer, Joey Kelly auch. Das erklärt eigentlich alles.
Heute ist Pause. Morgen muss ich sechsmal 1000 Meter sprinten. Aber wie? Ich bin zu schwer. Ich bin schlecht trainiert. Der rote Faden meines Lebens ist, dass ich immer schlecht trainiert war. Alle Menschen, die nicht schlecht trainiert sind, sind mir suspekt. Welch ein armseliges Leben muss ich führen? Morgens der erste Gedanke: Alles tut weh. Abends der letzte Gedanke: Alles tut weh. Bei jedem Bissen: schlechtes Gewissen. Bei jeder Pause: Warum läufst du nicht? Bei jedem Schmerz: Achilles, du erbärmliches Weichei. Beim Atmen: Tiefer! Schon gestretcht heute? Blick auf den Kalender: Panik. Schritt auf die Waage: Notschlachten. Im Trainingsplan blättern, ob nicht vielleicht ein paar lange Läufer verschwunden sind. Wo ist das Arsen?
Wir wohnen im Erdgeschoss. Drei klitzekleine Treppenstufen nur. Die nette Frau Moll von oben, die mich für einen prominenten Sportler hält und mir
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