Achilles Verse
Plänterwald-Lauf ist alles wie früher, als die Welt noch geordnet war in Gut und Böse: Rennen ohne Homepage, Startnummer ohne Reklame, Zeitnahme ohne Chip. Sport ohne Kapitalismus eben. Und der Wald ist auch kein Wald, sondern eine Grünanlage in Treptow an der Spree, so licht, dass man vorher
freiwillig dieses kontaminierte Schulklo aufsucht. Dabei habe ich extra ein Gefrierbeutelchen mit Klopapier im Ärmel. Hat mir Mona empfohlen.
Eine Runde um den Wald – macht fünf Kilometer. Mädchen laufen eine, ich natürlich vier, oder vielleicht auch nur drei. Schonungslose Formüberprüfung.
Der Plänterwald-Lauf ist der New-York-Marathon der Ost-Berliner: nur halb so lang, dafür doppelt so vermüffelt. Wahrscheinlich feuert Hans Modrow den Startschuss ab. Hier trifft Westberliner Spaß-Guerilla auf finster dreinblickende Ostberliner Lauf-Hamas.
Für Ossis ist Laufen eine brutal ernste Angelegenheit. Manche haben das ganze Jahr auf diesen einen Moment hingefiebert, wenn sie sich kurz vorm Start aus dem knisternden Ballonseidentrainingsanzug schälen, den sie sich damals vom Begrüßungsgeld geleistet haben. Sie laufen bei null Grad in kurzen Hosen. Sie sind nicht zum Quatschen hier, sie wollen Bestzeit. Ihre Beine sind kurz und krumm. Waden wie Brötchen. Hinterm Stirnband haben sie einen Schwamm stecken. Die Fundamentalisten drängeln sich nach ganz vorn zur Startlinie. Laufen ist Religion. Lachen verboten.
Der Wessi legt für den Plänterwald-Lauf unweigerlich seine ältesten Klamotten an. Neue Laufschuhe provozieren eisige Blicke, die sagen: »Soso! Der Herr aus dem Westen hat’s natürlich richtig dicke und muss es allen zeigen.« Ossis können wahnsinnig vorwurfsvoll gucken. Ich werde mir bei eBay ein paar original NVA-Turnschuhe besorgen, wegen der sozialen Gerechtigkeit. Andererseits: Einfach einen Spoiler für den tiefergelegten Kia weniger, dann sind auch mal ein Paar neue Treter drin.
Ich starte weiter hinten. Großer Fehler. Rudel breithüftiger Damen blockieren den Weg. Meine Marschtabelle gerät schon am Start in Gefahr. 5:30 Minuten pro Kilometer auf der ersten Runde, auf der zweiten 5:20, dann 5:10 und 5 Minuten glatt auf der letzten – macht 1:45 Stunden über 20 Kilometer. Hochgerechnet
auf den Marathon dürften das unter vier Stunden sein. Achim, die Rakete.
Ein älterer Herr hat offenbar den gleichen Zeitplan. Er trägt einen grauen Jogging-Anzug, Modell Lichtenhagen, garantiert funktionsfrei, dafür mit zartem Schatten im Schritt. Gevatter zieht auf der zweiten Runde leicht an. Ich bleibe in seinem Windschatten. Nach der zweiten Runde könnte ich gut aufhören. Im Ziel stehen moppelige Ein-Runden-Läufer und scherzen. Opa beschleunigt wieder leicht. Nicht mit mir, Alterchen! Jetzt bist du reif. Ich bin Baumann, der Dieter. Zentimeter für Zentimeter Zwischensprint. Der Asphalt glüht. Achim, der weiße Kenianer. Der Rentner sieht nur noch meine Hacken. Ich fliege über die Ziellinie. Endlich kannst du ausruhen, Senior. Drei Runden sind ganz gut für dein Alter.
Ich laufe die vierte Runde natürlich noch. Die letzten Trainingskilometer sind immer die wertvollsten. Und die gemeinsten. Das Sprintduell gegen den Rentner hat Kraft gekostet. Meine Oberschenkel fühlen sich an, als schwappe flüssiges Blei darin. Ich biege ins Unterholz, pinkele drei Tropfen, quäle mich zurück auf den Weg. Hölle! Keine 200 Meter entfernt kommt dieser alte Gnom angewackelt. Der Infarkt soll ihn fällen. Ich kann nur noch Schlurfschritt. Knie wie Flummis. Herr, wirf Epo vom Himmel! Hinter mir der Klang von 20 Jahre alten NVA-Turnschuhen, fest und rhythmisch. Aber er überholt nicht. Der verdammte Sausack lässt sich ziehen und ruht sich aus.
Noch knapp zwei Kilometer. Die Spaziergänger auf dem Weg an der Spree drehen sich entsetzt um. Was früher mein Atem war, rasselt wie eine Kettensäge. Meine Zunge schmeckt wie Gandhis Sandale. Klare Gedanken, Achim, auch wenn kaum noch Blut im Hirn fließt. Olympisches Finale: Du und der Russe allein an der Spitze. Wie lockt man ihn nach vorn? Klar, einfach langsamer werden. Und schon kommt Opa aus dem Rhythmus. Jetzt hat er es satt. Haha. Er zieht vorbei.
Natürlich denkt er, dass er mich jetzt abhängt. Aber nicht Achim,
den Beißer. Ich starre auf seine abgelaufenen Sohlen, den knochigen Hintern. Nicht nachlassen. Letzte Kurve. Sabber rinnt aus meinen Lefzen. Noch 400 Meter. Opa zieht an. Ich auch. Meine Lunge fliegt in tausend Stücke. Rettungshubschrauber. Ich will
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