Achsenbruch
ganzen Hinterhof hätte teeren können. Doch die Hälfte von ihnen rieselte bereits beim ersten Bissen auf den Küchenboden hinab.
»Theo, pass doch auf«, mahnte Karin. »Wenn die Streusel immer im Staubsauger landen, müssen wir alle drei Tage eine neue Schachtel kaufen.«
Dieses Problem kümmerte Magers Jüngsten aber nicht im Geringsten. Stattdessen fixierte er Simone, als wollte er sich jede Einzelheit ihres Gesichts einprägen. Als das erledigt schien, fragte er: »Bist du jetzt Kalles Frau?«
Simone lächelte und wählte von allen denkbaren Antworten die zweitkürzeste: »Nein.«
»Aber du hast doch oben bei ihm übernachtet!«
Mager atmete hörbar durch – der Wissensdurst des Sohnes kannte noch keine Schamgrenzen.
»Stimmt. Aber dazu muss ich nicht mit Kalle verheiratet sein«, erklärte Sim.
»Der Pastor in unserem Kindergarten hat aber was ganz anderes gesagt!«
Simone sah Mager fragend an.
»Er ist im evangelischen Kindergarten. Und jeden Freitag kommt der Pfaf…«
»Klaus!«, mahnte Karin.
»… kommt der Pastor«, korrigierte sich Mager, »und erteilt den Kindern den Freitagssegen. Völlig egal, ob sie christlich, muslimisch oder jüdisch sind. Der Typ glaubt nicht nur an Gott, sondern auch daran, dass er der Papst von Lütgendortmund ist.«
»Gruselig«, befand Simone. »Gibt es hier keinen städtischen Kindergarten? Oder einen von der AWO?«
»Die hatten alle keinen Platz mehr frei«, erläuterte der Bärtige düster. »Aber die kirchlichen Kindergärten nehmen diese Quotenheiden gerne auf.«
»Um sie zu bekehren?«
»Vielleicht. Aber das Wichtigste sind wohl die städtischen Zuschüsse. Die gibt es nur, wenn sie auch Andersgläubige nehmen.«
»Und ich bin das einzige Heidenkind«, trompetete Theo. »Darum betet der Pastor auch jeden Tag für mich!«
»Warum das denn?«, wollte Simone wissen.
»Der Gott soll auf mich aufpassen, sagt er. Weil mein Papa so oft unterwegs ist.«
Nach dem Frühstück fuhr Kalle allein zur täglichen Gesichtskontrolle nach Bochum. Simone hatte ihn zwar begleiten wollen, aber Theo hatte die Nicht-Frau seines großen Bruders bereits anders verplant: Er wollte mit ihr unbedingt Autorennen fahren. So hockte sie nun auf dem Boden des Kinderzimmers und steckte mit dem Kurzen die Fahrspuren zusammen. Es würde dauern, bis die kleinen Flitzer zu ihrer ersten Runde starten konnten.
Karin räumte derweil mit Magers Hilfe den Tisch ab und genoss danach ein völlig unerwartetes Stündchen der Ruhe. Statt erneut eine Diskussion über den Stand ihrer Ehe zu beginnen, zog sich ihr Gatte in sein Filmarchiv zurück. Eigentlich hatte er ausrechnen wollen, wie viel Geld PEGASUS noch brauchte, um sämtliche Schäden der Durchsuchungsaktion am Freitag zu beseitigen. Doch der Anblick der leeren Regale und des abgeräumten Arbeitstisches ließ ihn zunächst in einen Zustand der Antriebslosigkeit fallen. Hatte das alles noch Sinn, was sie da trieben? Noch solch ein Polizeiüberfall und sie konnten den Laden dichtmachen. Zwanzig Jahre Maloche wären für die Katz und ihn würde mit vierundfünfzig Jahren sowieso niemand mehr einstellen.
Seufzend blickte er auf die runden Blechbehälter, in denen er seine alten 16-mm-Filme aufbewahrte. Lange her, dass er die Protestaktionen gegen die Fahrpreiserhöhungen der Dortmunder Straßenbahnen mit seiner alten Arriflex gefilmt hatte. 1971 musste das gewesen sein. Damals fuhren die Bahnen noch alle oberirdisch und Hunderte von Menschen hatten die wichtigsten Straßenkreuzungen in der City blockiert. Zeitweise ging gar nichts mehr, nur hilfsbereite Autofahrer mit einem roten Punkt an der Windschutzscheibe nahmen an den Ausfallstraßen bedenkenlos Tramper mit, deren Straßenbahnen nicht mehr durchkamen. Achtzehn war er damals gewesen. Verdammt lange her – lange genug auch dafür, dass sich Dorns Schnüffler nicht dafür interessierten. Moment …
Das Wort ›Straßenbahn‹ hatte in seinem Gehirn eine Assoziationskette in Gang gesetzt. Diese Kette endete aber nicht beim ›roten Punkt‹, sondern führte jetzt weiter zu dem Wort ›Explosion‹. Die alte Straßenbahnbrücke an der Unistraße! Da hatten auch irgendwelche Heinis viel zu viel Dynamit verbraucht. Und er hatte diesen Wums aufgenommen! Aber wo war dieses Filmchen geblieben?
Bei den Zelluloidstreifen nicht. So lange war diese Sprengung noch nicht her. Da war er schon auf Videokameras umgestiegen. Vor den neuen Speicherchips arbeiteten die noch mit Kompaktkassetten. Aber wo
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