Achsenbruch
»Anke, wann habe ich heute den ersten Termin?«
»Um drei.«
»Das Haus in der Königsteiner Straße?«
»Genau.«
»Der Vertrag ist fertig?«
»Chef!«
»Schon gut. Sie sind …«
»Eine Perle, ich weiß.«
Zufrieden drückte Beißner die Verbindung weg. Er mochte seine schlagfertige Sekretärin. Sie hielt ihm alle nervigen Arbeiten vom Hals.
Nach einem Blick auf seinen Junkers-Chronografen stellte er fest, dass er sich sputen musste.
Vor dem Spiegel korrigierte er noch schnell den Sitz seiner Krawatte, zog das Jackett an und legte den leichten Mantel über den Arm. Dann schaltete er die Alarmanlage scharf und trat vor die Haustür. Gönnte dem Schrotthaufen, wie Irmhild ihn genannt hatte, noch einen Blick: Na, so alt war die Kiste doch noch nicht. Dann ließ er das Garagentor hochfahren. Seinen Mantel warf er auf den Beifahrersitz seines roten Mercedes Cabrio, ließ die 245 Pferde kurz aufheulen und den Wagen rückwärts aus der Garage gleiten. Sobald er das Tor passiert hatte, fuhr er die Außenspiegel aus und schnallte sich ordnungsgemäß an.
Zeitgleich kurvte ein gelber Abschleppwagen quietschend auf den Wendehammer. Der Fahrer, ein untersetzter Mittdreißiger, sah zunächst den unrechtmäßig parkenden Kleinlaster und beobachtete dann das glänzende Cabrio, das sacht aus der Garage rollte. Angeberschlitten, dachte er. Brauchen diese alten Säcke doch nur als Dosenöffner.
Keiner der beiden Männer bemerkte das schwarze Kabel. Es führte von dem abgestellten Lieferwagen durch die Gosse an der Garageneinfahrt vorbei und verschwand in dem Buschwerk, das den Wendehammer begrenzte.
Langsam näherten sich die Hinterräder des Cabrios dem Kabel und glitten fast zärtlich darüber. In derselben Sekunde explodierte die glatte Front des Magirus-Deutz. Der Luftdruck war so stark, dass er den Sportwagen aus dem Weg fegte und noch im Nussbaumweg etliche Fensterscheiben zerfetzte. Der folgende Splitterregen aus geschrotetem Metall verwandelte die rechte Seite des Benz in ein Sieb. Beißners Zahnarzt würde heute vergeblich auf diesen Patienten warten.
2
»Theo, mach endlich!«
»Gleich, Papa, ich muss nur noch …«
Mager seufzte und bemühte sich, sein jüngstes Kind nicht anzuschreien: »Hör mal, dein Raumschiff kannst du heute Nachmittag noch fertig bauen. Aber Mama und ich müssen arbeiten. Und du musst in die Kita! Und vorher gibt es Frühstück. Mit leerem Magen …«
»Aber ich hab keinen Hunger. Und ihr frühstückt doch lieber im Büro, weil Kalle immer Brötchen mitbringt. Die sind nämlich viel leckerer als Mamas Biobrot. Ich will auch mit euch Brötchen …«
»Das geht nicht, weil wir beim Frühstück schon über die Arbeit reden. Und weil in der Kita um neun Uhr die Tür abgeschlossen wird und Mama erst drei Vaterunser beten muss, bis man euch doch noch reinlässt.«
»Wer ist dieser Vater Unsel?«
»Vaterunser heißt das. Das ist der Anfang eines Zauberspruchs, den die Christen gerne aufsagen, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Also, lass jetzt die Legosteine liegen!«
»Aber …«
Mein Gott, dachte der bärtige Atheist unwillkürlich, wer hat dem Kind bloß dieses Wort beigebracht?
»Wo bleibt ihr denn?«, rief Karin Jacobmayer aus der Küche. »Theo, deine Milch wird kalt! Und Klaus muss noch …«
Kurz entschlossen packte Mager seinen Sprössling unter den Armen und hob ihn hoch. Theo reagierte mit lautem Geschrei und heftigem Strampeln und versuchte, sich am Türpfosten festzuhalten. Mühsam zog Mager ihn weiter und stolperte die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Konnte das Blag nicht ein einziges Mal gehorchen?
Als er mit seiner Last unten ankam, war er schweißgebadet. Nur noch drei Schritte bis zur Küche, doch an der Garderobe passierte es. Theo erwischte Magers Lederjacke und testete ihre Qualitäten als Notbremse. Schon stimmte er ein lautes Freudengeheul an, als man durch das Gebrüll hindurch ein heftiges Ratschen hörte.
Mager ließ das Kind los und blickte entsetzt auf das nagelneue Kleidungsstück. Vom Kragen bis zum Saum klaffte in dem sonnengelben Futter ein Riss.
»Mensch, Kalle, du Knallkopf!«
»Ich bin nicht Kalle, ich bin Theo!«
»Daran musst du dich gewöhnen«, meldete sich die Kindsmutter aus der Küche. »Dein Vater ist jetzt in einem Alter …«
Mager schubste Theo beiseite, packte die ruinierte Jacke und stürmte los, um sie Karin unter die Nase zu halten: »Ich bin vor allem in einem Alter, in dem ich mal ordentliche Klamotten tragen
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