Achsenbruch
aus der Warteschlange hatten bemerkt, was passiert war. Ein dröhnendes Hupkonzert setzte ein. Autotüren knallten, Schritte kamen näher. Zwei kräftige Arme packten das Mädchen und hoben es hoch, eine entsetzte Männerstimme rief: »Komm weg, Kleine, das da musst du nicht sehen!«
Doch, sie musste es sehen. Es ging gar nicht anders. Ich will nicht weg, ich will bei Mike bleiben!
Anna schrie, strampelte, schlug den großen Mann ins Gesicht, so heftig, dass er sie loslassen musste. Und wieder starrte sie durch ihre Tränen hindurch auf diesen Brei aus Blut und Knochen. Schrie, schrie, schrie.
Auch der Fahrer des Unglückswagens hatte gemerkt, dass etwas gegen seinen Wagen geprallt war. Er hatte angehalten, kam heran, sah zuerst das schreiende Mädchen, dann das platt gewalzte Fahrrad – und danach das Allerschlimmste überhaupt.
76
Der Videoclip von der Brückensprengung an der Universitätsstraße war der Hit beim PEGASUS-Frühstück. Mehrfach ließ Mager den 90-Sekunden-Streifen ablaufen und erklärte den anderen begeistert, was es mit dieser Aktion auf sich hatte: »Das liegt einfach daran, dass diese bekloppten Bochumer nicht weit genug im Voraus denken. In Dortmund haben die Straßenbahnen eine Normalspur, also rund hundertvierzig Zentimeter, aber die Kleingeister in Bochum, Gelsenkirchen und Recklinghausen sind von Anfang an auf einer Meterspur gefahren.«
»Komm, Klaus, etwas kürzer bitte!«
»Ja, doch. Äh, als die Bochumer Uni ausgebaut war, konnte die Straßenbahn mit ihren Schmalspurwaggons die Studentenströme zur Uni nicht mehr bewältigen. Also hat man die U-Bahn von Herne zum Bochumer Hauptbahnhof nach Süden verlängert. Die U 35 hat nämlich eine breite Spur für Großraumwagen. Aber die waren für die bestehende Brücke zu schwer. Und darum musste man das alte Ding wegsprengen und in jede Richtung eine neue bauen – für die Autos und jeweils ein Gleis.«
Kalle musterte seinen Vater mit einem Anflug echten Respekts. Mit den neuen Techniken hatte er ja manchmal seine Probleme, aber dafür hatte er eine Menge anderer Sachen drauf. Chapeau, Alter!
»So, und jetzt zu dem blauen Magirus. Die Schrift auf der Seitenwand ist nicht zu sehen, dafür aber das hier!«
Er zoomte das Standbild heran und alle konnten es erkennen: Es war das Kennzeichen für den Ennepe-Ruhr-Kreis.
»Europas Nieten«, zitierte Mager das weit verbreitete Vorurteil. »Ist was dran. Die haben nämlich so viel Dynamit verballert, dass die Steine bis zum Grunewald flogen und ein paar Fensterscheiben zu Bruch gingen.«
Susanne unterbrach ihn: »Das Kennzeichen. Hast du es Lohkamp schon gemailt?«
»Noch nicht.«
»Und warum?«
»Das siehst du sofort!«
Mager ließ das Standbild auf dem Monitor ein wenig nach rechts wandern. Ruckelnd tauchte nach und nach ein VW-Bulli auf. Der Lieferwagen stand quer und auf dem grauen Blech prangte in sattem Blau der Name des Ladens, der für die Sprengung der Brücke verantwortlich war: Schneider Bau . Und darunter waren die Postleitzahl und der Standort der Firma benannt: Witten-Herbede .
»Den Betrieb gibt es sogar noch«, sagte Mager und legte einen Zettel auf den Tisch. »Hier. Das ist die Adresse, die im Telefonbuch steht.«
»Schön«, sagte Susanne, »aber das erklärt noch nicht …«
Sie verstummte. Die Antwort war doch klar. Wenn sie Lohkamp die Infos und den Clip zu früh schickten, war er vor PEGASUS in Herbede. Und dann kamen sie mit der Kamera wohl nicht mehr aufs Gelände. Aber ohne ein Interview mit dem Boss oder den Mitarbeitern war der Beitrag nur die Hälfte wert.
»Kapiert. Worauf warten wir noch?«
Kalle sprang auf: »Ich packe alles ein. In zehn Minuten sind wir startklar!«
Im Weggehen steckte er noch ein halbes Brötchen in den Mund und grinste die beiden an.
»Gute Arbeit«, sagte Susanne zu Mager. »Schade, dass ich das nicht schon gestern wusste.«
»Wo warst du überhaupt? Ich habe am Nachmittag sofort bei dir angeklingelt.«
Sie druckste herum und auf ihrem blassen Gesicht breitete sich ein Hauch Rosa aus.
»Hat dich unser Besuch bei der Villa Eden auf andere Gedanken gebracht?«, fragte er und bemühte sich darum, dass es nicht spöttisch klang.
»Könnte man sagen«, wich sie aus. Wie immer hielt sie ihr Privatleben ihm gegenüber unter Verschluss. Es ging ihn nichts mehr an. »Sag mir lieber, wie wir Lohkamp informieren?«
»Karin kann ihm den Clip ins Büro schicken, wenn wir angekommen sind.«
»Müsste reichen. Klärst du das mit
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