Achtung BABY!
dem Teller befand sich anscheinend eine Quallenfamilie. Es war ein glibbernder Berg, der sich Minuten nach dem Servieren noch bewegte.
»Sven, ich würde das nicht essen.«
»Ich will es mal probieren.«
»Und, schmeckt’s?«
Ich gebe zu, dass ich die Qualle auch probiert habe. Sven hat mich dazu nicht mal aufgefordert, aber geteiltes Leid ist halbes Leid. Wir haben danach nie wieder darüber gesprochen. Und was ist jetzt die Lehre aus diesen Geschichten? Tote Schnecken sind nichts gegen Kater, und Quallen sollte man nicht mal an Katzen verfüttern.
Der Geruch des sich absetzenden Nabels meiner kleinen Tochter holte mir diese Erinnerungen wieder zurück. Es dauerte dannnoch zwei Wochen, bis sich der Nabelschnurrest verabschiedete: »Servus!«
Schwamm drüber und Puder drauf.
So einfach geht es leider nicht immer. Ab dem dritten Tag schienen die Drogen aufzuhören zu wirken. Der Baby-Blues kam. Und das war nicht so ein schlechter weißer Bluessänger oder Michael Bolton, der einmal in einem Wochenend-Workshop die Bluestonleiter gelernt hat. Das war die Mother of all Blues (eigentlich ein schönes Wortspiel). Beim echten Baby-Blues sitzt ein alter Schwarzer mit Dobro-Gitarre auf einem Barhocker in der Ecke des Schlafzimmers und jammert in A-Dur. John Lee Hooker sagt Guten Tag. Der Baby-Blues ist ein wissenschaftlich belegtes Phänomen. Es heißt »postpartales Stimmungstief« und beschreibt hormonell bedingte depressive Verstimmungen und extreme Stimmungsschwankungen zwischen dem dritten und zehnten Tag nach der Geburt. Die sogenannten Heultage. Es bringt nichts, Frauen mit Sätzen zu kommen wie: »Es ist doch alles gut. Das Baby ist da, ihr seid gesund, du musst doch glücklich sein!«
Glücklich sein müssen ist eh ein Widerspruch in sich. Es ist ja eigentlich natürlich, dass eine Frau nach neun Monaten hormonellen Wahnsinns und extremen körperlichen Veränderungen nicht einfach so düdeldü weiter durchs Leben geht, als ob nichts gewesen wäre. Dem Heul-Blues kann man nur mit viel Zuwendung und vor allem Verständnis begegnen. Auch wenn ich natürlich nicht ansatzweise so betroffen war wie meine Frau, sang ich auch den Baby-Blues. Es ist eben auch nicht alles toll nach der Geburt. Das darf man auch mal zugeben. Natürlich nicht offen, weil dann sofort die Gscheiderle- und Übereltern kommen und dir ein schlechtes Gewissen einreden: »Wie kannst du nur so was sagen?!!«
Ich kann euch auch was singen. Und ich sang den Blues, meine hellblaue Fender Strat heulte dazu:
»Da da da dam, ich sitz’ hier nachts um drei
da da da dam, mein Leben ist vorbei
da da da dam, mein Körper ist müd’ von Kopf bis Fuß
da da da dam, das ist der Baby-Blues.«
Eines der Symptome beim Baby-Blues ist Schlaflosigkeit. Das habe ich nachgegoogelt. Schlaflosigkeit, das traf sich schlecht, da wir sowieso nicht viel schliefen. Ich hatte am dritten Tag in mein Tagebuch geschrieben:
»Ich kann kaum noch meine Augen offenhalten, und doch wollen die Augenlider sich nicht schließen. Ich schlafe nicht, weil ich nicht schlafen kann, und deswegen schlafe ich dann wieder nicht etc. Wenn irgendjemand dieses Tagebuch findet, möge er es an die richtigen Stellen weiterleiten …«
So erschallte der Baby-Blues weiter in vielen Variationen und Stimmlagen. Zwei Stunden später habe ich notiert:
»Ich kriege Visionen. Ich habe Angst, dass aus schlaflosen Nächten Wochen werden. Ich sehe Gudrun und mich im Bett sitzen wie damals Yoko Ono und John Lennon. Nackt, ausgemergelt und ungewaschen (Yoko sogar unrasiert), aber mit einem letzten Funken Hoffnung singen wir ›All we are saying, is give sleep a chance‹.«
Ich dachte mir an einem Punkt, Friedensverhandlungen mit der Kleinen, das wäre vielleicht eine gute Idee. Das Problem dabei ist: Babys sind in ihrer Grundstruktur autokratisch. Wieso sollten die auch? Wenn ich der König wäre, dann müsste ich nicht mit dem Gesinde über humanere Arbeitszeiten verhandeln. Die gehen weiterhin in die Wickelstillfabrik und fahren ihre Tages- und Nachtschichten. Tja, liebe vegetarischen, basisdemokratischen Grünkerneltern: Baby zu Hause, das heißt die Minderheit an die Macht. Mit Demokratie hat das nichts mehr zu tun. Die Mehrheit der häuslichen Wählerinnen und Wähler, sprich Eltern, sind nicht der Souverän im Wickelstaat. Babys sind ja irgendwie Wahlvolk, Bundeskanzler und Bundespräsident in einem. So eine Mischung aus Putin, König Ludwig und Schröder. Mit einer Prise George W. Bush:
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