Achtung BABY!
der weltberühmte japanische Geiger Takaya Urakawa ein Konzert in der Kirche geben würde. Was habe ich mich gefreut! Endlich! Takaya Urakawa, der Zaubergeiger. Ich hatte alle Starschnitte aus koreanischen Bravo-Heften. Wow, das musste ein super Geburtstag werden, Kirche und Geige, das ist eine Stimmungskombination, die heute höchstens von DJ Ötzi übertroffen wird. Ich habe bei meinen Eltern sofort alle Argumente angeführt, die mir einfielen, um diesem musikalischen Pearl Harbour zu entgehen: »Aber ich habe doch Geburtstag. An dem Tag darf man doch immer das machen, was einem Spaß macht.«
»Du wirst sehen, das wird dir gefallen.«
»Aber muss ich das dann auch hören?«
»Das wirst du nur einmal in deinem Leben erleben, dass der Takaya Urakawa bei uns in Dorfen auftritt, aber Geburtstage wirst du noch viele feiern können.«
»Wenn der Geiger so weltberühmt ist, warum tritt der dann bei uns im Kaff auf?«
»Der … das ist eine Ehre für unsere Stadt, und da gehen wir hin.«
Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich noch weitere Gegenargumente angeführt habe, aber wenn, dann waren sie nicht sehr effektiv. So saß ich irgendwann als Bub an einem dritten April in der Maria Wallfahrtskirche in Dorfen und lauschte fast freiwillig den Klängen eines berühmten Geigers, der auf seiner Welttournee wahrscheinlich an seinem einzigen freien Tag im Jahr unsere Gemeinde besuchte und uns Musikheiden den Mozart machte. Hat es mir doch gefallen? Nein. Da ging es für mich ums Prinzip. Es hätte mir nie gefallen können. Selbst wenn der Geiger plötzlich eine E-Gitarre in Geigenform rausgezogen hätte und ein Best of Led Zeppelin und AC/DC so gespielt hätte, dass Robert Plant und Bon Scott (der lebte zu der Zeit noch) geweint hätten, ichhätte es nicht zugegeben, dass es gut ist. Selbst wenn der Geiger mir nachher seine beiden heißen halbwüchsigen Töchter vorgestellt hätte, die auf bayrische Buben mit schlechten Siebzigerjahreklamotten stehen, wäre ich meinem Verweigerungsprinzip treu geblieben. Ich hatte mir alle möglichen Szenarien vorgestellt, auf die ich mit ehrlicher Ablehnung reagieren würde. Man hat ja schon Fernsehmoderatoren kotzen sehen. Aber Takaya benutzte keine fiesen Tricks, um sich das Wohlwollen aller zu erschleichen. Er kam, sah und geigte. Und er geigte. Ich schlief ein. Und er geigte. Und ich schlief weiter. Ich bin eigentlich immer wegen des Applauses aufgewacht. Klatschen in einer Kirche ist ja auch ziemlich laut. Dank der heiligen Akustik kam ich in etwa auf 21 Dreiminutennickerchen. Und als ich dann viele Jahre später in dunklen Nächten meine kleine Tochter durchs Zimmer trug, um sie ins Land der Träume zu bringen, fiel mir plötzlich wieder der Takaya ein: »Wenn der mich damals so ausgeknockt hat, könnte das ja auch bei meiner Tochter klappen.«
Ich habe den Namen gegoogelt, und siehe da, er wird auch heute noch als »Japans führender Geiger« beschrieben. Eigentlich hätte ich meine Eltern anrufen und Abbitte leisten müssen: »Es tut mir leid, dass ich damals den Takaya schlechtgemacht habe. Ihr hattet recht, er war und ist ein Stargeiger, der es eigentlich gar nicht nötig gehabt hätte, bei uns in einem bayrischen Kleinstadtdorf aufzutreten. Aber bei mir hat damals der fehlende Geburtstag eine irreparable Lücke hinterlassen, die mit Mozart einfach nicht zu füllen ist.«
Ich besorgte mir stattdessen heimlich Urakawa-CDs, um seine ehemaligen Schlafförderqualitäten auf die Probe zu stellen. Aber wie es so oft ist im Leben: Man kann Dinge aus der Vergangenheit nicht einfach in die Gegenwart transponieren (hey, klassisches Wortspiel, in doppeltem Sinne). Lilly hat noch mehr geweint, als ich ihr den Urakawa vorspielte. Ich wusste nicht, ob ich stolz sein sollte oder traurig, weil mir somit auch dieser Schlafweg verbaut war. Meine Tochter hat Geschmack. Nichts gegen klassische Musik, aber mir reicht es, wenn ich ab und zu spätnachts vondesillusionierten Taxifahrern meine Dosis Klassikradio bekomme. Ist das mal jemandem aufgefallen, dass Taxifahrer, die klassische Musik hören, alle schwerhörig sind? Die drehen das immer auf bis zum Anschlag, das kann nicht beruhigend wirken. Und die Klassik-Taxler gucken immer am enttäuschtesten, wenn man sie bittet, die Musik doch leiser zu drehen. Sie glauben mir auch nie, wenn ich ihnen sage, dass ich bei lauter Klassik einschlafe.
Ich war immer noch auf der Suche nach der perfekten Einschlafmusik. Alles habe ich ausprobiert. Von Heavy
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