Achtung BABY!
Arm, und dann schläft der kleine Wurm. Ich hatte auch mal diese romantische Vorstellung, dass du leichtfüßig tänzelnd mit einer sanften Schaukelbewegung deine Nachkommen durchs Zimmer trägst, im Hintergrund süße Klänge von Schlafliedern, gesungen von zufällig vorbeikommenden Waldelfen, und das kleine Baby lässt sich wohlig ins Schlummerland gleiten. Aber die Realität hat da doch ein bisschen mehr zu bieten. Schon allein in der Zeiteinteilungsabteilung. Ich habe sehr schnell gemerkt, dass in der Nacht zwei, drei Stunden schneller vorbeigehen, als man glaubt. Nicht wie ein stolzer Vater, sondern mehr wie ein Zombie ging ich mit meiner Kleinen im Schlafzimmer auf und ab. Oft habe ich gedacht, irgendwann, wenn sie mal volljährig ist, hole ich mir das Kilometergeld wieder zurück (hier kommt später wieder der Verdrängungsfaktor ins Spiel!). Aber in dieser Zeit lernt man auch viel. Zum Beispiel wusste ich vorher nicht, dass man auch im Gehen schlafen kann. Du drehst deine Kreise um das Bett wie Haie, die ihre Beute auf dem Boot mit speziell geschwommenen Schlangenlinien hypnotisieren wollen, damit die dann bereitwillig zu ihnen ins Wasser hüpfen. Und so ging ich Kilometer um Kilometer, schlafzimmerauf, schlafzimmerab. Man kommt sich dabei vor wie ein Gehmännchen, das man aufzieht, und dann läuft es so lange, bis ein Widerstand zum Beispiel in Form einer Schlafzimmerwand kommt, und dann bumps – bleibt es kurz stehen, dreht sich um, und los geht’s in die andere Richtung. Wieder bis zur nächsten Wand – bumps. Eines Nachts wurde mir klar, dass ich mit dem Training locker den Iron-Man-Wettbewerb auf Hawaii gewinnen würde, es sei denn, ich müsste gegen andere Väter antreten, die ein ähnliches Trainingsprogramm hinter sich haben. Singen und gleichzeitig meine Kleine durchs Schlafzimmer tragen und dabei schaukelnde Bewegungen ausführen, das war meine Königsdisziplin in dieser Zeit – bumps – und wieder zurück – bumps – ich bewegte mich wie eine fürsorgliche Flipperkugel zwischen den Banden – bumps. Vom ursprünglichen Schlafliederrepertoire hatte ich mich doch etwas wegbewegt: »I’m a Pinball Wizard and …«
Ich erfand auch Fantasielieder. Wirre Kombinationen eines Hörenden. Oft war es irgendwas zwischen »Stille Nacht« und »Jingle Bells«. Einmal sang ich gedankenlos so vor mich hin: »Eins zwei drei, Freddy kommt vorbei …«
Gudrun fragte mich verdutzt: »Michl, du weißt schon, dass das das Hauptlied über den Kinderschlächter Freddy Krueger in den ›Nightmare on Elm Street‹-Filmen ist?«
»Entschuldigung, aber ich habe die anderen Lieder schon alle durch.«
Das brachte mich dazu, mal grundlegend über das Thema Schlaflied nachzugrübeln. Ich hatte mich auf die ersten Wochen nach der Geburt nicht künstlerisch vorbereitet. Ich habe Strebereltern getroffen, die sich schon in der Endschwangerschaft gegenseitig Schlaflieder vorgesungen haben, die sie dann später an ihrem Baby ausprobieren wollten. Ich dachte mir, da wird mir dann schon was einfallen. Ich bin eigentlich ein musischer Mensch. Meine Mutter ist klassische Sängerin, Sopranistin. Deswegen hatte ich gehofft, dass ich da ein bisschen was geerbt habe, um damit über die nächtlichen Runden zu kommen. Eins vorweg: Ich hatte nie den Anspruch, meine Nachkommen mit ebenso klassischer Musik zu versorgen. Ich habe leider bis zum heutigen Tag keinen Draht zu klassischer Musik. Aber wer als Jugendlicher jeden Sonntagmorgen mit Sopranarien und Tonleitern geweckt wird, die seine Mutter noch eine Stunde vor dem Kirchgang für den Kirchenchor übt, entwickelt eine innere Gegenbewegung zur Klassik. Ich wurde so zum Mozart-68er, und auf meiner Jacke prangte ein selbst gebastelter Button mit »Schubert – Nein danke!«. Keiner meiner Kumpels hat das verstanden, da war man über »Police«- und »AC/DC«-Sticker nicht hinausgekommen. Ich habe dann oft erklärt, Schubert, das sei ein reaktionärer Musikterrorist, der mit seinen Klavierfingerübungen Hunderttausenden kleinen Kindern die Knöchelchen gebrochen habe. Ich will klassische Musik nicht verteufeln, für mich persönlich war es immer eine gute Einschlafmethode. Es gab für mich ein dramatisches Erweckungserlebnis. Ich musste mal als Kind anmeinem Geburtstag auf ein klassisches Konzert gehen (Vorsicht Psychologen: Traumagefahr!). In meiner Heimatstadt, einer Metropole mit ein paar Tausend Einwohnern und der ideellen Begrenzung eines gallischen Dorfes, war angekündigt, dass
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