Acqua Mortale
schaute Silvia vorwurfsvoll an, Sara saß mit rot geheulten Augen auf dem Boden.
Silvia bugsierte Sara ins Auto und versuchte sie aufzumuntern, aber sie erntete nur trotzige Blicke. Silvia spürte, wie ihre Kräfte erlahmten. Sie hatte fünf Stunden Schule plus eine unbezahlte Vertretungsstunde gehalten, hatte sich in einer Lehrerkonferenz von ihrem Schulleiter erklären lassen, wie wichtig Konfliktentschärfung und didaktische Variabilität seien, sie hatte die Buntwäsche bei 40° und die Bettwäsche bei 60° gewaschen und eingekauft. In einer Viertelstunde war Vito da. Er wollte pünktlich essen. Er habe später noch einen wichtigen Termin.
Silvia jagte über die Brücke von San Giorgio , hatte aber keinen Blick übrig für den schiefen Kirchturm und die weißen Marmorstatuen auf den Brückengeländern. Sie bog nach rechts ab, den Po di Volano entlang. Sie parkte in der Einfahrt und flehte die Kinder an, sie mögen sich beeilen. Da sie sich nicht rührten, schloss sie die Haustür auf, lief in die Küche und setzte Nudelwasser und ein bisschen Olivenöl für den Sugo auf, in den sie Tomatenpüree und Kräuter kippte. Dann ging sie wieder nach draußen, streichelte Sara über die Wange und klopfte Mirko auf die Schulter.
»Ihr müsst mir jetzt ein bisschen helfen«, sagte sie.
»Wenn es hart auf hart kommt, muss ich mit meiner Mamaverschwinden, verstehst du?«, schrie Mirko und verschränkte die Arme. Sara starrte aus dem Seitenfenster und schluchzte. Silvia unterdrückte, was sie auf der Zunge hatte, und lief wieder ins Haus.
Der Sugo schmeckte nach nichts, sie drückte ein bisschen Tomatenkonzentrat aus der Tube hinein. Sie rührte mit dem Holzlöffel Salz und Paprika darunter, kostete. Er schmeckte immer noch nach Papiertaschentuch. Im Wohnzimmer krachte es, dann heulte Sara auf. Silvia warf den Kochlöffel wütend in den Topf und rannte ins Wohnzimmer. Sie riss die Tür auf und schrie: »Habe ich euch nicht schon tausend Mal gesagt, dass …« Mirko saß auf Sara und kitzelte sie. Das Mädchen jaulte vor Vergnügen. »Entschuldigt. Das Essen ist gleich fertig.«
Was ist nur los mit mir?, dachte Silvia und schloss die Tür zum Wohnzimmer. Der Stress, gut, aber der Stress war nicht größer als sonst auch. Irgendetwas stimmte nicht in diesem Haus. Das spürte sie. Es ging von Vito aus. Aber Vito war noch gar nicht da. Was war das für ein wichtiger Termin, nach dem Abendessen? Angeblich spielte er Tennis mit Beppe Pirri, aber sie hatte zufällig gehört, wie er den Hallenplatz abbestellt hatte. Vito stellte seit ein paar Tagen eine derart gute Laune zur Schau … Die war verdächtig. Hatte er Ärger, den er überspielte? Die ungelösten Probleme an seinem Arbeitsplatz waren in einem Winkel seines Gesichtes immer zu lesen gewesen. Zumindest für Silvia. Wo waren diese Probleme hingekommen? Und was hatte dieser Fremde plötzlich in ihrem Leben zu suchen? Dieser Journalist aus Deutschland, für den Vito sich auf einmal derart begeisterte, dass er Arbeitstermine verlegte, was sonst nie geschah. Was versprach Vito sich von dessen Reportage? Sollte ein Publikum in Deutschland dafür sorgen, dass sich hier in Italien etwas änderte? Wo sich seit dem Fall des Römischen Imperiums nichts mehr geändert hatte. Oder hatte Vito … Sie wollte den Gedanken gar nicht weiterdenken. Sie dachte an ihren Schulrektor, der neuerdings jedes ihrer Kleidungsstückemit einem Kompliment bedachte und versuchte, Vieraugengespräche anzuberaumen, an den Biologielehrer, der angeblich mit der neuen Vertretung im Kopierraum erwischt worden war, sie dachte an die Statistiken, die sie beim Zahnarzt in einer Klatschzeitschrift gelesen hatte. Was machte sie eigentlich so sicher, dass ihre Ehe anders war als die anderen? Dass Vito genauso treu war wie sie? Ich bin überarbeitet, deshalb sehe ich Gespenster, sagte sie sich. Ich muss abschalten, mir mit Vito irgendeine dümmliche Fernsehkomödie anschauen, auf dem Sofa in seinem Schoß ein wenig dösen. Aber sie würde heute nicht in seinem Schoß dösen, sie würde diesen Abend alleine verbringen. Wieso?
Neben der Telefonkommode stand seine Aktentasche. Sie beugte sich nach unten und fuhr vorsichtig über die kalten Messingschlösser. Noch nie hatte sie in den Sachen ihres Mannes gestöbert, auch seine Tagebücher nicht gelesen. Ihre Finger zitterten. Mit den Daumen presste sie gegen die wuchtigen Entriegelungsknöpfe, doch sie saßen fest. Abgeschlossen. Auch das war neu. Silvia schaute auf
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