Acqua Mortale
Kilometer gefahren war, den Freund aus dem Gurt gelöst und die Wunde verarztet hatte, nachdem er einen Notruf über das Satellitentelefon abgegeben und den letzten Wiederbelebungsversuch unternommen hatte, erst da waren die Geräusche und Gerüche wieder in aller Deutlichkeit da. Der Staub auf den Zähnen, das Brennen im Arm, der Diesel, der aus der Treibstoffleitung tropfte.
Lunau spürte, wie der Boden nachgab. Er befand sich im freien Fall, verlor den Kontakt zur Lenkstange. Der Knall war ausgeblieben, er hörte nur den Motor aufheulen, das sanfte Klingeln seiner Fahrradglocke, und dann schlugen ihm Dornen ins Gesicht, er fiel hart auf die Schulter, rutschte ein Stück, mit einem ratschenden Geräusch öffnete sich ein Hosenbein. Lunau verfing sich in einem Busch.
Er war sofort wieder auf den Beinen und voller Energie. Er wühlte sich aus dem Gestrüpp und die Böschung hoch. Nichts schien gebrochen, sein Körper funktionierte. Er tastete nach seinem Korg, riss ihn aus der Brusttasche. Äußerlich fehlte ihmnichts. Auch das Kunstkopfmikro hing noch an den Kabeln. Lunau stand auf der Deichkrone. Kein Auto weit und breit. Nur der Motor, dessen Röhren sich entfernte. Der Fahrer hatte die Scheinwerfer abgestellt.
Lunau hatte nicht nur das Fahrzeugmodell erkannt. Was er da gesehen hatte, schien ihm jedoch zu absurd, als dass er es hätte glauben können. Das Gesicht von Vito Di Natale. Lunau tastete seinen Körper ab, stellte den Korg an und machte eine Probeaufnahme mit dem Mikro. Alles heil. Sein rechtes Hosenbein war aufgeschlitzt, Blut lief in seine Socke. Nur eine Schürfwunde.
Sollte das ein Spaß gewesen sein? Irgendein traditioneller Schabernack, der mit dem Fluss zusammenhing ? Hunger und Hanfausdünstungen sollten über die Jahrhunderte in den Bewohnern der Po-Ebene eine besonders bizarre Fantasie entfesselt haben. Sie waren bekannt für die Streiche, die sie Fremdherrschern und Touristen spielten. Aber das war kein Schabernack gewesen, dachte Lunau, während er das Fahrrad aus dem Gebüsch zerrte. Das Vorderrad hatte einen Achter, und die Verkabelung des Dynamos war abgerissen. Der Rest schien funktionstüchtig. Lunau tastete nach seinem Handy und rief Di Natales Nummer an. Niemand meldete sich. Danach wählte Lunau die Festnetznummer. Es tutete vier Mal in der Leitung, dann sprang der Anrufbeantworter an. Lunaus Beine zitterten. Das Adrenalin spielte Flipper in seinen Synapsen. Er verschnaufte kurz, ehe er das große Metalltor aufschob und mit dem Fahrrad hindurchging. Er lehnte es an die Baracke, vor der ein dunkler Wagen parkte. Lunau klopfte. Die Tür ging auf.
14
Alberto Gasparotto war ein hagerer Mensch, dessen aufrechte Haltung dem durchschnittlichen Betrachter steif vorkam. Er saß auf dem Sofa und betrachtete ein Porträt von Italo Balbo, dem faschistischen Führer aus Ferrara, dem Mann der ersten Stunde, der Mussolini beim Marsch auf Rom begleitet und sein Stellvertreter geworden war. Auf der anderen Seite des Kamins hing eine Kampfszene, ein italienischer Abfangjäger lag quer in der Luft und schoss aus seinen Bord-MGs auf einen englischen Aufklärer.
»Ja, schau sie dir nur an, deine Kopien«, sagte seine Mutter, das Wort »Kopien« verächtlich betonend. Als ob der Sohn Schuld daran wäre, dass die Originale bei Plünderungen entwendet worden waren. Alberto hatte italienische Sammler kontaktiert und Verbindungen zu Militaria-Spezialisten im Ausland genutzt. Aber nirgendwo fand sich eine Spur von den Werken.
»Du weißt, irgendwann werde ich die Originale wiederbeschaffen.«
»Du hast ja nicht einmal eine Ahnung, wo sie sind. Und das Geld zum Ankauf hast du auch nicht.«
Gasparotto ließ den Blick durch den Raum schweifen, traf auf das Gesicht seiner Frau und wandte die Augen erschrocken wieder ab. Seine Frau schaute ihn aus ihrem Rollstuhl erwartungsvoll an. Aber was erwartete sie noch von ihm? Er war bei ihr geblieben. Trotz allem. Was wollte sie noch? Seine Mutter fing seinen Blick ab, und ihr eckiger, dürrer Kiefer wurde noch eckiger. Sie hatte ihn immer gedrängt, die Ehe annullieren zu lassen. Mit Hilfe ihrer guten Verbindungen zur Kurie. Die Ehe war nicht vollzogen worden. Eine Formalie. Mit einer anderen Frau hätte Alberto ihr Enkel geschenkt. Er hätte der Nation neue Untertanen geschenkt. Alberto hatte es nicht fertiggebracht. Er hatte, seit seiner frühesten Kindheit, für ein besseres Italien gekämpft.Aber seine Frau hatte er diesem Kampf nicht geopfert. Seine Mutter
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