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Acqua Mortale

Acqua Mortale

Titel: Acqua Mortale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Foersch
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    Sie fuhren weiter flussabwärts und kamen an einem riesigen Kahn vorbei, dessen Motoren einen infernalischen Lärm machten, obwohl er nicht vom Fleck kam.
    »Was ist das?«, fragte Lunau.
    »Einer unserer Schwimmbagger. Er saugt den Sand aus der Fahrrinne.«
    Tatsächlich hingen zwei gelbe Rüssel ins Wasser, die den Sand an Bord pumpten.
    »Und wohin bringt man den Sand?«
    »Nirgendwohin. Er wird an einer anderen Stelle, wo er die Schifffahrt nicht stört, wieder ins Flussbett eingeleitet.«
    »Das scheint mir wenig effizient, die Strömung verteilt den Sand doch wieder.«
    »Der Sand ist für das ökologische und hydraulische Gleichgewicht im Fluss unverzichtbar.«
    Lunau verstand nicht recht, was das heißen sollte, aber er konzentrierte sich lieber auf den Aufnahmepegel, denn die Motoren klangen spektakulär. Di Natale winkte der Besatzung, diese winkte freundlich zurück, und das Boot glitt weiter Richtung Mündungsgebiet. Die Nachmittagssonne warf ein warmes, orangefarbenes Licht auf das Wasser, die Pappelreihen rückten in immer weitere Ferne, und plötzlich befanden sie sich nicht mehr auf einem Fluss, sondern in einer unendlichen Landschaft aus grünem Wasser, kleinen Inseln, wippenden Schilfgürteln, Sandbänken. Di  Natales Gesicht leuchtete ebenfalls. »In dieses Labyrinth haben sich immer nur die Einheimischen gewagt. Hier hat sich Giuseppe Garibaldi vor den Österreichern versteckt, und die Partisanenlagen im Wasser, atmeten durch Schilfrohre, während die Deutschen erfolglos ihre Säuberungen durchführten.« Das schien nicht mehr Europa zu sein, der Enddarm eines der am dichtesten industrialisierten Gebiete der Welt. So weit das Auge reichte nur Wasser, Sumpfpflanzen, Möwen und Reiher. Der Schiffer stellte den Motor ab. Stille, erfüllt vom Wellenschlag am Bootsrumpf, den fernen Möwenschreien und dem Wind in den Ohrmuscheln. Lunau lehnte seinen Kopf an die Kajüte und lauschte auf die Vogelstimmen, die aus dem Schilf schallten. Am Horizont ging das Tiefblau des Meeres in den Himmel über, ein Schwarm Flamingos flatterte auf, eine rosa Wolke, die hinter einem kleinen Deich verschwand, sich mit den weißen in der Dünung wippenden Punkten aus Lach- und Königsmöwen mischte. Lunau schloss die Augen und ließ sich vom Boot wiegen. Das heisere Krächzen der Möwen, das Pfeifen der Seeschwalben, die unterschiedlichen Schreie hoben sich aus der Stille ab wie Sterne an einem dunklen Firmament. Lunaus Gehörsinn entspannte sich endlich. Vergessen die Nervosität, die im Laufe des Tages in ihm aufgestiegen war, weil er hinter seinen »Geschichten« herjagte. Vergessen die panische Verzweiflung vom Vorabend. Er spürte, dass er hier sicher war vor Halluzinationen. Weil sein Hirn nicht überlastet war, sondern das Hören genoss. Sie alle hatten recht, seine Frau Jette, sein Psychotherapeut, ja vielleicht sogar Dr. Wilma Gerstner. Er durfte nicht immer nur nach einer Mordsschweinerei suchen. Wie der Sondermüll, der von Schiebern, eskortiert von europäischen Marineeinheiten, vor Somalia im Meer versenkt wurde, wie die Kindersklaven, die trotz der Ethik-Charta der Großkonzerne für genau diese Großkonzerne die Kakaobohnen ernteten. Acht- und Neunjährige, die man aus Mali entführte und für zweihundert Dollar an die Plantagenbesitzer verkaufte. »Warum schaust du nur dahin, wo es Böses und Hässliches gibt?«, hatte Jette ihm immer vorgeworfen. »Du veränderst die Welt nicht, duveränderst nur dich selbst. Du wirst genauso hässlich und mies wie das, was du wie ein Besessener aufspüren willst.«
    Vielleicht war es so einfach, wie Jette behauptete: Man war nicht das, was man aß, sondern das, was man sah. Und hörte. Er hatte sich selbst krank gemacht.
    »Na, was sagen Sie?«, fragte Di Natale.
    »Atemberaubend.« Der Wind brachte kühle, salzhaltige Luft vom Meer, die Lunau in die Nase fuhr, die Sonne kitzelte auf der Haut.
    »Die ganze Welt redet von der Camargue, aber wir hier …« Er machte eine ausholende Geste.
    »Wir haben noch viel mehr zu bieten. Das ist ein Eldorado für Birdwatcher, und mit dem Mikro können Sie absolute Raritäten einfangen. Nach welchem Vogel suchen Sie?«
    Lunau verstand, warum der Mann seinen Beruf liebte. Der Sinn seines Tuns war nicht zu leugnen. Was für Lunaus Arbeit nicht mehr galt. Seit der achtjährige Sami ihn fassungslos angestarrt hatte. »Du gehst?«, hatte er gefragt, als Lunau mit seinen Recherchen auf den Plantagen an der Elfenbeinküste fertig

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