Adam 01 - Die letzte Chance der Menschheit
möglicherweise ihm gegolten hatte. Wenn dem so war, hatte Virginia Zimunga die Kugel für ihn abgefangen. Hatte sie nicht kurz vor dem Schuss zu ihm gesagt, dass er sehr wichtig sein könnte?
Adam nahm sich vor, sie bei der nächsten Gelegenheit danach zu fragen. Ohne die Anwesenheit des Sergeants und der anderen.
Aber zunächst war er sehr froh darüber, dass der Frau nicht allzu viel passiert war. Mrs Zimunga stand auf. Adam wollte sie stützen, aber die Frau ging völlig sicheren Schrittes zur Fensterfront.
»Sieh nach draußen«, sagte sie zu Adam. »Wir verlassen soeben die Festung Südafrika.«
Adam presste die Stirn gegen das Glas des Fensters und blickte auf das Land unter ihm.
»So habe ich es mir nicht vorgestellt«, staunte er.
Eine gigantische Mauer wand sich am südlichen Ufer des Grenzflusses zu Simbabwe. Ein Bollwerk aus grauem Beton, das sich in der flirrenden Luft des Horizonts verlor. Fünfzehn Meter hoch. Mit Wachtürmen und Scheinwerfern, die selbst jetzt, bei Tage, ihr gleißendes Licht gen Norden schickten.
Die Kwa Zulu überflog die schlammigen Fluten des Limpopo. Die ersten Kilometer des Nachbarlandes bestanden aus verbrannter Erde. Bar jeglichen Lebens.
»Kein schöner Anblick, nicht wahr«, bemerkte Virginia Zimunga. »Die Soldaten da unten wollen sehen, was auf sie zukommt.«
Adam war erschüttert. In den Zeitungen und im Radio war immer wieder die Notwendigkeit einer kontrollierten Grenze verteidigt worden, aber mit einem immensen Aufwand hatte man hier ein waffenstarrendes Monstrum erschaffen.
»Sie schießen auf die armen Seelen, die zu uns wollen«, sagte Mrs Zimunga.
»Das kann ich nicht glauben.« Adam sah sie erschrocken an. »Außerdem tun wir doch sehr viel für die Menschen in Simbabwe. Medizinische Versorgung, Lebensmittel …«
»Sicher, sicher«, stimmte die Frau zu. »Allerdings soll der Wall nicht nur unseresgleichen abhalten.«
»Wie meinen Sie das?«
Virginia Zimunga schloss die Augen und holte tief Luft. Adam fragte sich, ob ihr die Verletzung Schmerzen bereitete.
»Unter uns ist jetzt Feindesland«, sagte sie. »Das spüre ich. Aber ich weiß nicht, in welcher Gestalt sich der Feind zeigen wird.«
Adam war versucht, ihr von dem Ding in Gugulethu zu erzählen. Aber er schwieg. In nur wenigen Tagen hatte sich so vieles verändert. Und wenn er ehrlich war, wusste er nicht mehr, wem er vertrauen konnte. Alles war furchtbar verwirrend geworden. Ein prasselndes Geräusch erfüllte plötzlich die Schiffsmesse.
»Was ist das?«, fragte Adam.
Virginia Zimunga legte sanft eine Hand auf seine Schulter. Genau wie Quinton es im Krankenhaus getan hatte.
»Regen«, sagte sie. »Nur ein Regenschauer, Adam.«
***
Ein Wolkenbruch entlud sich über Harare. Die Regenmassen hämmerten auf das Dach, als wollten sie sich Einlass verschaffen.
Shén Zilúng stand am Fenster und starrte nach draußen. Ein Rudel herrenloser Hunde lief die Straße entlang. Das nasse Fell klebte an ihren ausgemergelten Leibern. Ihr Verhalten war untypisch. Sie verkrochen sich trotz des Unwetters nicht in einem der leer stehenden Häuser, sondern hielten sich genau in der Mitte der Fahrbahn. Da, wo ihre ärgsten Feinde, die Menschen, sie sofort entdecken konnten. Die Tiere hielten den größtmöglichen Abstand zu den dunklen Türen und Fensterhöhlen der Gebäude an beiden Seiten der Straße.
Plötzlich hielt der Leithund, ein mächtiger weißschwarz gefleckter Rüde, inne, reckte die Schnauze und nahm Witterung auf. In geduckter Haltung, den Schweif zwischen die Hinterläufe geklemmt, umrundete er in einem großen Bogen die Grube am Straßenrand. Die Meute folgte ihm in ebenso furchtsamer Haltung.
»Siehst du«, sagte eine vertraute Stimme hinter Shén Zilúng. »Die Tiere können es spüren.«
Sie hatte John gar nicht kommen hören, so sehr hatte sie der Anblick der Hundemeute fasziniert.
Seit Langem teilte Shén mit dem Afrikaner den knappen Wohnraum in der ehemaligen Autowerkstatt. 2014, vor zwölf Jahren, war sie als junge Ingenieurin nach Simbabwe gekommen, um bei einem mit chinesischem Geld finanzierten Projekt mitzuarbeiten. Nur zwei Jahre später geriet die Welt aus den Fugen. Kriege, Naturkatastrophen, Aufstände.
Die chinesische Delegation beschloss gemeinsam mit dem Personal der Botschaft, das letzte Flugzeug zu besteigen, das den Flughafen von Harare verlassen sollte.
Shén Zilúng hatte seitdem weder von ihren Kollegen noch aus ihrer Heimat eine Nachricht
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