Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
beherrscht. Wenn Gott ewig ist, dann ist seine Gerechtigkeit ewig. Und auch seine Ungerechtigkeit.«
»Bevor Sie sich entfremdet haben, Sie und Ihre Schwester«, sagte Kate, »sind Sie da öfter mal in Innocent House gewesen?«
»Nicht oft, nein, aber gelegentlich war ich schon mal da. Es war sogar mal die Rede davon, Monate bevor ich mich zu meiner Berufung bekannte, daß ich eine Teilzeitstelle bei Peverell Press annehmen sollte. Jean-Philippe Etienne lag sehr viel daran, daß das Archiv gesichtet und katalogisiert würde, und anscheinend dachte er, ich sei für diese Aufgabe geeignet. Die Etiennes haben alle eine Nase für ein günstiges Geschäft, und er ahnte wahrscheinlich, daß ich ebenso aus Interesse arbeiten würde wie um des Geldes willen. Aber Henry Peverell stellte sich quer, und ich wußte natürlich, warum.«
»Sie kennen Jean-Philippe Etienne?« fragte Dalgliesh.
»Ich habe alle Gesellschafter einigermaßen gut gekannt. Die beiden alten Herren, Jean-Philippe und Henry, schienen geradezu eigensinnig an einer Macht zu hängen, die sie andererseits beide entweder nicht willens oder unfähig waren auszuüben. Der junge Etienne war offenkundig der große Neuerer, der designierte Erbe. Mit Claudia Etienne bin ich nie besonders gut ausgekommen, aber James de Witt hab’ ich gern gemocht. De Witt ist ein leuchtendes Beispiel dafür, daß man auch ohne die Hilfe des Glaubens und ohne religiösen Halt ein gutes und lauteres Leben führen kann. Es gibt anscheinend Menschen, die praktisch ohne Erbsünde geboren werden. Bei ihnen ist Güte schwerlich ein Verdienst.«
»Ganz gewiß muß man nicht unbedingt fromm sein, um ein gutes Leben zu führen«, sagte Dalgliesh.
»Vielleicht nicht; der Glaube allein mag das Verhalten nicht beeinflussen. Doch die praktische Religionsausübung sollte das sehr wohl tun.«
»Auf dem letzten Fest in Innocent House sind Sie natürlich nicht gewesen«, sagte Kate. »Aber waren Sie vielleicht früher mal auf einer Party dort? Und erinnern Sie sich zufällig, ob die Gäste bei solchen Anlässen zu allen Teilen des Hauses freien Zugang hatten?«
»Ich bin nur zweimal mit zu einem Fest gegangen. Der Verlag veranstaltet jeweils eins im Sommer und eins im Winter. Bestimmt hat niemand die Gäste daran gehindert, sich im Haus umzusehen, aber ich glaube nicht, daß es viele waren, die ungeniert überall herumspaziert sind. Es gehört sich ja wohl auch nicht, bei einer Party die Gelegenheit zu nutzen und in Räumen herumzuschnüffeln, die normalerweise streng privat sind. Aber in Innocent House sind ja jetzt eigentlich fast nur noch Büros, und vielleicht macht das einen Unterschied. Die Feste dort waren allerdings recht formell. Die Gästeliste wurde kontrolliert, und Henry Peverell mochte es gar nicht, wenn gleichzeitig mehr als, sagen wir achtzig Leute im Haus waren. Peverell Press hat nie was von den üblichen Literatenpartys gehalten, bei denen zu viele Einladungen verschickt werden, für den Fall, daß irgendein Prominenter beleidigt sein könnte, weil man ihn übergangen hat. Das Ende vom Lied sind dann zu volle, überheizte Räume, in denen die Leute sich damit herumplagen, ihre Teller vom kalten Büfett in der Balance zu halten, lauwarmen Weißwein trinken und einander anbrüllen müssen, weil man sonst sein eigenes Wort nicht versteht. Bei Peverell kamen die meisten Gäste mit der Fähre, und da war es wohl ziemlich leicht, die ungeladenen Partyschnorrer auszusondern, denke ich mir.«
Viel mehr war nicht zu erfahren. In stiller Übereinkunft machten sie am Ende des nächsten Beetes kehrt und gingen den gleichen Weg zurück. Schweigend brachten Dalgliesh und Kate Schwester Agnes zum Hauptportal und verabschiedeten sich, ohne das Kloster noch einmal zu betreten. Sie sah beide durchdringend an und hielt ihren Blick fest, ja zwang sie gewissermaßen durch ihre Willenskraft zu einem Moment konzentrierter Aufmerksamkeit, als ob sie die beiden dadurch verpflichten könne, ihr Vertrauen zu respektieren.
Sie hatten kaum die Auffahrt passiert und warteten an der ersten roten Ampel, als Kates aufgestauter Groll sich Luft machte.
»Also darum stand das Bett im kleinen Archiv, darum hatte die Tür einen Riegel und ein gutgeöltes Schloß! Mein Gott, was für ein gemeiner Schuft! Schwester Agnes hat ganz recht, er hat sich da raufgeschlichen wie ein mieser kleiner viktorianischer Despot. Er hat sie gedemütigt und benutzt. Ich kann mir vorstellen, was da oben passiert ist. Der Mann war
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