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Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut

Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut

Titel: Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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mich immer noch von Zeit zu Zeit für einen Auftrag in Bibliotheken in London, Oxford oder Cambridge, vorausgesetzt, es ist ein passendes Haus – ich meine ein Kloster – vorhanden, wo ich unterkommen kann. Aber diese Arbeit wird eher seltener. Es braucht sehr viel Zeit, ein wertvolles Buch oder Manuskript zu restaurieren und neu zu binden, länger, als man mich hier entbehren kann.«
    Dalgliesh erinnerte sich an einen Besuch im Corpus Christi’ College in Cambridge vor drei Jahren, wo man ihm neben einer der frühesten illuminierten Handschriften des Neuen Testaments auch die Jerusalemer Bibel gezeigt hatte, die schon mehrmals mit eigener Eskorte zu den Krönungsfeierlichkeiten nach Westminster gebracht worden war. Man hatte das frisch gebundene Kleinod liebevoll aus seinem eigens angefertigten Behältnis genommen, es auf das pfeilförmige Pult gelehnt und die Seiten mit einem Holzspachtel umgeblättert, um zu verhindern, daß die Talgabsonderungen der Haut mit dem Pergament in Berührung kamen. Dalgliesh hatte staunend auf diese unglaublich sorgfältig gezeichneten Vignetten geblickt, die sich seinem Auge über fünfhundert Jahre hinweg genauso leuchtend und frisch darboten wie damals, als die Farben unglaublich feindosiert und exakt aus der Feder des Künstlers geflossen waren, und er hatte Motive gesehen, deren Schönheit und tiefempfundene menschliche Botschaft ihn zu Tränen rührten.
    »Ihre Arbeit hier wird also für wichtiger gehalten?« fragte er.
    »Da gelten unterschiedliche Maßstäbe. Aber hier ist es jedenfalls kein Nachteil, daß es mir an den eher alltäglichen, praktischen Fertigkeiten mangelt. Mit ein bißchen Übung kann schließlich jeder eine Waschmaschine bedienen, Patienten im Rollstuhl ins Bad fahren, Bettpfannen ausgeben. Aber es ist ungewiß, wie lange diese Dienste noch gebraucht werden. Der Priester, der unser Kaplan ist, konvertiert zum römisch-katholischen Glauben, eine Reaktion darauf, daß in der anglikanischen Kirche jetzt auch Frauen ordiniert werden. Die Hälfte unserer Schwestern will ihm folgen. Die Zukunft von St. Anne’s als anglikanischer Orden ist also alles andere als gesichert.«
    Sie hatten unterdessen alle drei Wege abgeschritten und begannen den Rundgang von neuem. Schwester Agnes fuhr fort: »Henry Peverell war nicht der einzige, der sich in den letzten Jahren zwischen uns gedrängt hat. Da war auch noch Eliza Brady. Aber Sie brauchen nicht nach ihr zu suchen, Commander, sie ist schon 1871 gestorben. Ich las über sie im Prozeßbericht in einer viktorianischen Zeitung, die ich in einem Secondhand-Buchladen in der Charing Cross Road aufstöberte und unglücklicherweise auch Sonia zu lesen gab. Eliza Brady war dreizehn Jahre alt. Ihr Vater arbeitete für einen Kohlenhändler, und ihre Mutter war im Kindbett gestorben. Eliza vertrat Mutterstelle an den vier jüngeren Geschwistern und dem Neugeborenen. Ihr Vater bezeugte vor Gericht, daß Eliza ihnen allen eine zweite Mutter war. Sie arbeitete vierzehn Stunden am Tag. Sie wusch, machte Feuer, kochte, ging einkaufen, kurz, sie betreute die ganze kleine Familie mit rührender Fürsorglichkeit. Eines Morgens, als sie die Windeln des Babys am Schutzgitter vor dem Kamin trocknete, stützte sie sich auf das Gitter, das unter ihr zusammenbrach und mit ihr in die Flammen fiel. Sie erlitt schreckliche Verbrennungen und starb drei Tage später unter grausamen Qualen. Diese Geschichte ging meiner Schwester furchtbar nahe. ›Das ist also die Gerechtigkeit deines sogenannten liebenden Gottes‹, sagte sie. ›So belohnt er die Guten und Unschuldigen. Es hat ihm nicht genügt, dieses Mädchen umzubringen, nein, es mußte eines schrecklichen Todes sterben, langsam und qualvoll.‹ Meine Schwester war bald ganz besessen von dieser Eliza Brady. Sie erhob sie zu einer Art Kultfigur. Wenn sie ein Bild von ihr gehabt hätte, dann hätte sie wahrscheinlich davor gebetet, auch wenn ich nicht weiß, zu wem.«
    »Aber wenn sie einen Grund suchte, um nicht mehr an Gott zu glauben«, wandte Kate ein, »warum mußte sie da aufs neunzehnte Jahrhundert zurückgreifen? Tragödien haben wir doch auch in der Gegenwart genug. Sie hätte nur fernsehen oder Zeitung lesen müssen. Oder an Jugoslawien denken. Eliza Brady ist doch schon über hundert Jahre tot.«
    Schwester Agnes nickte. »Das hab’ ich ihr ja auch gesagt, aber Sonia hat mir geantwortet, Gerechtigkeit habe nichts mit Zeit zu tun. Wir dürften nicht zulassen, daß die Zeit uns so

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