Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
hat sie keine guten Freunde gehabt, und ich hatte keinen Grund, Gerard Etienne den Tod zu wünschen. Außerdem bin ich an dem Tag oder in der Nacht, als er starb, hiergewesen. Das können Sie leicht nachprüfen.«
»Ich habe ja nicht unterstellt, Schwester, daß Sie in irgendeiner Weise persönlich mit Gerard Etiennes Tod zu tun hatten. Ich frage nur, ob Sie irgend jemanden kennen, der Ihrer Schwester nahestand und dem die Art, wie sie starb, so zu Herzen gegangen sein könnte, daß daraus Rachegelüste entstanden.«
»Da kommt außer mir niemand in Frage. Aber mein Groll richtete sich gegen sie, Commander. Selbstmord ist die absolute Verzweiflungstat, die endgültige Zurückweisung der göttlichen Gnade, die allergrößte Sünde.«
Dalgliesh versetzte ruhig: »Dann wird dem Selbstmörder vielleicht auch die allergrößte Barmherzigkeit zuteil, Schwester.«
Sie waren am Ende des ersten Weges angelangt, gingen gemeinsam die paar Stufen hinunter und wandten sich nach links. »Ich mag keine Rosen im Herbst«, sagte Schwester Agnes unvermittelt. »Die Rose ist doch im wesentlichen eine Sommerblume. Am deprimierendsten sind die Dezemberrosen, braune, eingeschrumpelte Knospen auf einem Haufen Dornen. Im Dezember kann ich’s kaum ertragen, hier langzugehen. Rosen sind wie wir, sie wissen nicht, wann es Zeit ist zu sterben.«
»Aber heute«, meinte er, »könnte man doch fast glauben, wir hätten noch Sommer.« Und nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Ich nehme an, Sie wissen, daß Gerard Etienne an Kohlenmonoxydvergiftung gestorben ist, und zwar im selben Raum wie Ihre Schwester. In seinem Fall dürfte es sich kaum um Selbstmord gehandelt haben. Es könnte ein Unfall gewesen sein, durch einen verstopften Abzug, der zu einem Defekt am Gasofen führte, aber wir müssen auch eine dritte Möglichkeit in Betracht ziehen, nämlich daß der Ofen absichtlich so präpariert wurde.«
»Heißt das, Sie glauben, er wurde ermordet?« fragte sie.
»Das können wir jedenfalls nicht ausschließen. Und ich muß Sie fragen, ob Sie es für denkbar halten, daß Ihre Schwester sich an dem Ofen zu schaffen gemacht hat. Ich spreche hier gar nicht von einem Plan, Etienne zu töten. Aber wäre es möglich, daß sie ihren Selbstmord ursprünglich wie einen Unfall erscheinen lassen wollte und später ihre Meinung geändert hat?«
»Wie um alles in der Welt soll ich das wissen, Commander?«
»Es ist sehr weit hergeholt, aber ich mußte Sie das fragen. Falls es zu einer Mordanklage kommt, wird der Verteidiger diese Möglichkeit ganz bestimmt vorbringen.«
»Es hätte anderen Menschen sehr viel Kummer erspart, wenn sie ihren Tod als Unfall getarnt hätte, aber das tun Selbstmörder nun mal selten. Ein Selbstmord ist immerhin die krasseste Form von Aggression, und wie könnte eine Aggression befriedigend sein, wenn man damit nur sich selbst verletzt? Es wäre nicht sonderlich schwer gewesen, einen Selbstmord als Unfall zu inszenieren. Ich könnte mir da einige Möglichkeiten vorstellen, aber die Idee, einen Gasofen auseinanderzunehmen und den Abzug zu blockieren, gehört nicht dazu. Ich bin mir auch nicht sicher, ob Sonia gewußt hätte, wie man das macht. Sie war im Leben nicht technisch begabt, warum hätte sie es im Tod sein sollen?«
»Und in dem Brief an Sie stand nichts weiter? Ich meine, hat sie keinen Grund angegeben, keine Erklärung?«
»Nein«, sagte sie, »keinen Grund und keine Erklärung.«
Dalgliesh fuhr fort: »Anscheinend wurde allgemein angenommen, daß Ihre Schwester sich umbrachte, weil Gerard Etienne ihr gekündigt hatte. Halten Sie das für wahrscheinlich?«
Da Schwester Agnes nicht antwortete, hakte er nach einer Minute behutsam nach. »Als ihre Schwester, als jemand, der sie sehr gut gekannt hat, sind Sie da mit dieser Erklärung zufrieden?«
Sie wandte sich ihm zu und sah ihm zum erstenmal offen ins Gesicht. »Ist diese Frage für Ihre Ermittlungen relevant?«
»Sie könnte es sein, ja. Falls Miss Clements etwas über Innocent House wußte oder über einen der Angestellten dort, etwas, das so entsetzlich war, daß es zu ihrem Tod beitrug, dann könnte dieses selbe Faktum auch beim Tod von Gerard Etienne eine Rolle spielen.«
Wieder drehte sie ihm das Gesicht zu. »Ist etwa damit zu rechnen, daß der Fall meiner Schwester noch einmal aufgerollt wird?«
»Offiziell? Absolut nicht. Wir wissen, wie Miss Clements gestorben ist. Ich wüßte zwar gern noch den Grund, aber das Ergebnis der gerichtlichen
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