Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
Weilchen zum Ratschen geblieben war. Lady Sarah Peverell, die Frau des Erbauers von Innocent House, habe sich, so Ken, vom höchsten Balkon heruntergestürzt und sei auf der marmornen Terrasse zerschmettert.
»Den Blutfleck kannste heute noch sehen«, hatte Ken gesagt, während er eine Bücherkiste vom Regal auf den Handwagen hievte. »Aber laß dich bloß nicht von Miss Frances erwischen, wenn du danach suchst. Die Familie sieht es nicht gern, wenn diese Geschichte die Runde macht. Doch den Fleck können sie nun mal nicht wegkriegen, und solange sie das nicht schaffen, wird auch kein Segen auf dem Haus ruhen. Sie geht übrigens heute noch um, die Lady Sarah. Da kannste jeden Fährmann auf der Themse fragen.«
Ken hatte natürlich versucht, ihr Angst zu machen, aber das war Ende September gewesen, an einem lauen, hellen Sonnentag, und Mandy hatte die Geschichte genossen, die sie höchstens zur Hälfte glaubte und bei der ihr ein angenehm gruseliger Schauder über den Rücken gelaufen war. Später hatte sie sich dann doch bei Fred Bowling erkundigt und wußte noch,’ was er ihr geantwortet hatte: »Gespenster gibt’s auf dem Fluß grad’ genug, aber keins davon spukt in Innocent House.«
Das war allerdings vor Mr. Gerards Tod gewesen. Vielleicht spukte es ja jetzt auch hier.
Und nun wurde ihr langsam wirklich bange. Sie sah hinauf zum obersten Balkon und stellte sich diesen entsetzlichen Sturz vor, die wild rudernden Glieder, den gräßlichen Schrei – bestimmt hatte sie doch wenigstens einmal aufgeschrien –, das unerträgliche Krachen, als der Körper auf dem Marmor aufschlug. Plötzlich ertönte wirklich ein schriller Schrei, und Mandy schrak zusammen. Doch es war nur eine Möwe gewesen. Der Vogel stieß dicht an ihrem Kopf vorbei aufs Geländer herab, ließ sich dort einen Augenblick nieder und flog dann weiter flußabwärts.
Mandy spürte, wie ihr die Kälte in die Glieder kroch, eine unnatürliche Kälte, die aus dem Marmor unter ihren Füßen emporzusteigen schien, als stünde sie auf Eis. Auch der Wind, der von der Themse herüberwehte, hatte aufgefrischt und blies ihr den ersten frostigen Winterhauch ins Gesicht. Sie warf einen letzten Blick über den Fluß, spähte hinunter zur Fähre, die still und verlassen am Steg vertäut lag, und dabei geschah es, daß sie oben auf dem Geländer, rechts von der Steintreppe, die zur Themse hinabführte, etwas Weißes blitzen sah. Im ersten Moment sah es aus wie ein Taschentuch, das jemand an den Handlauf gebunden haben mochte. Doch als Mandy neugierig näher trat, erkannte sie, daß es ein Stück Papier war, aufgespießt auf einen der spitzen Knäufe, die die Balustrade schmückten. Und dann blitzte es auch noch golden am Fuß des Geländers. Mandy ging in die Hocke, aber vor lauter Angst war sie so verwirrt, daß sie ein paar Sekunden brauchte, um das glitzernde Etwas zu erkennen. Es war die Schließe eines schmalen, doppelt gesteppten Lederriemens, und dieser Riemen, der zu einer braunen Schultertasche gehörte, spannte sich straff bis hinunter zum leicht gekräuselten Wasserspiegel, und dort, dicht unter der Oberfläche, war undeutlich etwas zu erkennen, etwas Groteskes, Unwirkliches wie der gewölbte Kopf eines Rieseninsekts, dessen unzählige haarige Füßchen sich sachte in der Strömung bewegten. Und dann wußte Mandy auf einmal, daß das, was sie da vor sich sah, der Kopf eines Menschen war. Ja, kein Zweifel, am anderen Ende des Schulterriemens hing ein Menschenkopf. Und während sie noch starr vor Entsetzen hinuntersah, bewegte sich der Körper in der Strömung, und eine weiße Hand hob sich langsam aus dem Wasser, das Handgelenk abgeknickt wie der Stengel einer welken Blume.
Ein paar Sekunden lang kämpfte Erkenntnis mit Unglauben, und dann sank sie, halb ohnmächtig vor Schreck und Entsetzen, auf die Knie und klammerte sich an die Eisenstäbe des Geländers. Sie merkte, wie das kalte Metall an ihren Händen brannte, und spürte seine eherne Festigkeit, als sie die Stirn dagegen preßte. Sie kniete dort, unfähig sich zu bewegen, indes das blanke Entsetzen ihr die Eingeweide zusammenkrampfte und ihre Glieder zu Stein gefrieren ließ. In diesem kalten Nichts war einzig ihr Herz noch lebendig, ein Herz, das sich in einen großen, glühenden Eisenbau verwandelt hatte und mit solcher Wucht gegen ihre Rippen trommelte, als könne es sie durch die Gitterstäbe hindurch bis in den Fluß wuchten. Sie wagte nicht, die Augen zu öffnen, denn das hieß sehen,
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