Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
langgeht und wie einer das, was er will, auch kriegt. Innocent House verkaufen sie ja nu wohl nich’, da wird Miss Peverell schon für gesorgt haben, und bestimmt is’ Mr. de Witt ihr wieder beigestanden. Aber wenn sie’s Haus nich’ verkaufen, wie woll’n sie’s dann halten? Das verrat mir mal einer. Wenn die Leutchen hier auch nur ’n Funken Grips ham’, dann schauen sie sich ganz schnell nach was Neuem um.«
Während sie nun allein im Büro war und ihren Schreibtisch aufräumte, wurde Mandy auf einmal bewußt, was diese Extrastunde doch für einen Unterschied machte. Innocent House wirkte plötzlich wie leergefegt. Als sie die Treppe zum ersten Stock hinaufging, um sich in der Damengarderobe umzuziehen, hallten ihre Schritte direkt unheimlich auf dem Marmor wider, als ob ein Unsichtbarer hinter ihr herliefe. Sie machte auf dem Treppenabsatz halt und sah, über die Balustrade gebeugt, die beiden kugelförmigen Lampen am Fuß der Treppe wie zwei freischwebende Monde die Halle erleuchten, die auf einmal einer riesigen, geheimnisvollen Höhle ähnelte. Mandy beeilte sich mit dem Umziehen. Sie stopfte ihre Bürosachen in die Umhängetasche, zog statt dessen den superkurzen, mehrlagigen Patchwork-Rock samt passendem Top an und zwängte ihre Füße in hohe, mit Glitzerstaub überzogene Stiefel. Eigentlich waren ihr die ja auf dem Motorrad zu schade, aber andererseits hielten sie schon was aus, und es war leichter, sie gleich anzuziehen, als noch einen Platz dafür in der Satteltasche zu finden.
Wie still es war! Da dröhnte sogar die Toilettenspülung wie eine Sturzflut. Eine richtige Wohltat, George, der schon seinen alten Tweedmantel an- und den Hut aufhatte, noch hinter dem Empfang zu sehen, wo er die drei abholbereiten Pakete für morgen in seinem Sicherheitsfach einschloß. Der unbekannte Saboteur hatte zwar seit dem Mord nicht mehr zugeschlagen, aber die Vorsichtsmaßnahmen waren gleichwohl noch in Kraft.
»Ist es nicht komisch, wie still hier alles wird, wenn die Leute weg sind?« fragte Mandy. »Bin ich die letzte?«
»Beinahe, bis auf Miss Claudia und mich. Ich mach’ mich jetzt auch auf den Weg. Miss Claudia stellt dann die Alarmanlage an.«
Sie verließen gemeinsam das Haus, und George zog die Tür fest hinter sich zu. Es hatte den ganzen Tag über stark geregnet. Dicht an dicht waren die Tropfen niedergegangen, hatten auf dem marmornen Vorhof getanzt, unablässig gegen die Fenster getrommelt und wie ein Schleier den Blick auf die grauen Wogen der Themse versperrt. Aber jetzt hatte es aufgehört, und im Schein der Rücklichter von Georges Auto glänzte das Kopfsteinpflaster der Innocent Passage wie lauter Reihen frisch aus ihrem Stachelkleid geschälter Kastanien. Zum erstenmal in diesem Herbst war es beißend kalt, ein Vorgeschmack auf den Winter. Mandy begann die Nase zu laufen, und sie kramte in ihrer Tasche nach einem Schal und ihrem Taschentuch. Erst wartete sie neben ihrem Motorrad, bis George in enervierendem Schneckentempo seinen alten Metro rückwärts aus dem Durchgang steuerte. Doch dann kam ihr der rettende Einfall, wie sich das Manöver verkürzen ließ, und sie rannte hin und signalisierte ihm per Handzeichen, daß der Innocent Walk frei sei. Das war er zwar immer, aber George setzte jedesmal so zaghaft zurück, als sei das Manöver ein tägliches Spiel mit dem Tod. Nachdem er ihr zum Abschied dankbar zugewinkt hatte, gab er endlich Gas und fuhr davon. Na ja, wenigstens ist ihm jetzt sein Job sicher, dachte Mandy. Mrs. Demery hatte ihr nämlich von den Gerüchten erzählt, wonach Mr. Gerard angeblich vorgehabt hatte, den alten George zu feuern.
Mandy schlängelte sich mit ihrer gewohnten Geschicklichkeit durch den späten Pendlerverkehr, überhörte unbekümmert das gelegentliche Hupen gereizter Autofahrer und kam in kaum mehr als einer halben Stunde vor der mit bunten Lichtern geschmückten Pseudo-Tudorfassade des White Horse an. Die Kneipe stand ein gutes Stück von der Straße entfernt auf einem etwa hundert Meter breiten Unlandstreifen, der die Vorortsiedlung von einem Grüngürtel aus Sträuchern und Buschwerk, den Ausläufern des Epping Forest, trennte. Der Platz vor dem Haus war schon fast zugeparkt, und Mandy entdeckte unter den abgestellten Wagen auch den Transporter der Band und Maureens Fiesta. Sie kurvte langsam um das Gebäude herum und landete auf einem kleineren Parkplatz hinter dem Pub, zog ihre Sachen aus der Satteltasche und ging über einen langen Flur zur
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