Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
erhängen, so entsetzlich, daß sie sich nicht erklären konnte, wie sie überhaupt darauf gekommen war. Wieder hatte sie den Eindruck, die anderen hätten sie ganz vergessen. Frances Peverell war ein Stück beiseite getreten. Sie umklammerte mit beiden Händen das Geländer und hielt den Blick starr auf den Fluß gerichtet. Mandy ahnte, was in ihr vorging: Sie wollte, daß man die Leiche barg und den gräßlichen Henkersgurt entfernte; und sie mußte dableiben, bis das vollbracht war, aber sie konnte es nicht ertragen, zuzusehen. Für Mandy dagegen war Wegsehen schlimmer als Zuschauen. Wenn sie schon bleiben mußte, dann war es ihr lieber, sie wußte, was geschah, als daß sie es sich später in der Phantasie ausmalte. Und bleiben mußte sie natürlich. Niemand hatte mehr ihren Vorschlag aufgegriffen, von Miss Peverells Wohnung aus die Polizei anzurufen. Aber das eilte ja wie gesagt auch nicht. Was machte es schon aus, ob sie ein bißchen später kamen? Keines ihrer Utensilien, nichts, was sie zu tun vermochten, konnte Mrs. Carling wieder zum Leben erwecken.
Inzwischen stand de Witt, der zaghaft tiefer stieg, bis zu den Knien im Wasser. Mit der rechten Hand umklammerte er den Fuß des Geländers, und mit der Linken tastete er nach den durchweichten Kleidern und versuchte, die Leiche zu sich heranzuziehen. Das Wasser kräuselte sich, und der Riemen gab einen Moment nach, wurde aber gleich wieder von der Strömung stramm gezogen. »Wenn einer von euch die Schnalle aufmachen könnte«, keuchte er, »dann würde ich sie vielleicht bis auf die Treppe kriegen.«
Dauntsey stützte sich wie Halt suchend auf das Geländer. Aber seine Stimme war ruhig und gefaßt. »Laß sie nicht abtreiben, James. Und du halt dich gut fest. Wir wollen dich nicht auch noch aus dem Fluß fischen müssen.«
Bartrum war es, der die ersten zwei Stufen hinunterstieg und die Schnalle aufnestelte. Seine Hände wirkten bleich im Schein der Kugellampen, die Finger sahen aus wie pralle Würste. Es dauerte eine Weile, da er offenbar keine Ahnung hatte, wie die Schließe funktionierte.
Als sie endlich offen war, sagte de Witt: »Ich werde beide Hände brauchen. Haltet ihr mich vorsichtshalber am Jackett fest.«
Daraufhin trat Dauntsey zu Bartrum auf die zweite Treppenstufe hinunter. Gemeinsam ergriffen sie de Witts Jackenschöße und hielten ihn fest, während dieser mit beiden Händen die Leiche zu sich heranzog und ihr den Gurt vom Hals nahm. Jetzt lag die Tote mit dem Gesicht nach unten auf der Ufertreppe. De Witt packte sie an den Beinen, die wie dünne Stöcke unter dem Rock hervorlugten, und Bartrum und Dauntsey ergriffen jeder einen Arm. So wurde das durchweichte Bündel die Stufen hinaufgezerrt und bäuchlings auf die Marmorfliesen geschleift. Behutsam drehte de Witt die Leiche um. Mandy erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf das im Tode grausam verzerrte Gesicht, den offenen Mund mit der heraushängenden Zunge, die unter faltigen Lidern halb geöffneten Augen, die schrecklichen Todesmale am Hals, bevor Dauntsey mit erstaunlicher Behendigkeit seinen Mantel auszog und über den Leichnam breitete. Unter dem Tweedfutter kroch langsam ein erst spärliches, dann aber immer breiter werdendes Rinnsal über den Marmorboden. Und obwohl es Wasser sein mußte, war es dunkel wie Blut.
Frances Peverell trat zu der Leiche und kniete neben ihr nieder. Sie murmelte wieder: »Die arme, arme Frau.« Mandy sah, daß ihre Lippen sich weiter stumm bewegten, und überlegte, ob sie wohl noch ein Gebet sprach. Sie warteten schweigend, aber ihre rasselnden, tiefen Atemzüge klangen unnatürlich laut in der Stille. Die Anstrengung, den Leichnam aus dem Wasser zu hieven, schien de Witt und Bartrum aller Kraft und Entscheidungsfähigkeit beraubt zu haben, und wieder war es Dauntsey, der die Initiative ergriff.
»Es sollte wohl jemand bei der Leiche bleiben«, sagte er. »Sydney und ich werden das übernehmen. James, du bringst die Frauen ins Haus und verständigst die Polizei. Und dann brauchen wir alle heißen Kaffee oder auch was Stärkeres, und zwar reichlich.«
47
Die Haustür von Nummer 12 öffnete sich auf eine schmale, rechteckige Diele, und Mandy folgte Frances Peverell und James de Witt eine steile, mit einem lindgrünen Teppich ausgelegte Treppe hinauf, die auf einen zweiten, aber eher quadratischen und auch größeren Flur führte. Durch die Tür gleich vis-â-vis vom Treppenabsatz betraten sie die Wohnung und standen im nächsten Moment in einem
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